Leserin Helene Miola hat das Kriegsende in Althausen erlebt. Foto: Privat

Wie haben Baden-Württemberger das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt? Wir veröffentlichen Erinnerungen unserer Leserinnen und Leser. Helene Miola (83) aus Stuttgart erzählt von der großen Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander, die sie nach dem Krieg in Althausen erfuhr.

Stuttgart - Helene Miola (83) aus Stuttgart erzählt von der großen Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander, die sie nach dem Krieg erfuhr:

„Ich habe das Kriegsende in Altshausen im damaligen Landkreis Saulgau bei meiner Tante erlebt. Ich war ungefähr 13 Jahre alt. Mein kleiner Bruder und ich waren aus Stuttgart evakuiert worden. Meine Mutter war zur Arbeit in einem Rüstungsbetrieb verpflichtet und mein Vater arbeitete bei einer Spedition und musste Brot nach Russland an die Front transportieren. 1944 besuchten uns die Eltern in Altshausen, es waren die letzten gemeinsamen Tage als Familie, denn schon kurz danach wurde mein Vater in Russland vermisst.

Anfang Mai 1945 forderte der Pfarrer von Altshausen seine Gemeinde während des Gottesdienstes auf, den Ort zu verlassen. Er war überzeugt, dass die SS das örtliche Schloss von Herzog Karl von Württemberg besetzt hatte und deshalb ein schwerer Angriff der Alliierten auf den Ort und seine Umgebung bevorstand.

Nach der Messe packten daher alle Familien hektisch das Nötigste zusammen. In einem kleinen Weiler in der Nähe wurden wir von einem Bauern aufgenommen und verbrachten die Nacht im Stall. Dabei war uns nicht klar, dass zwischen uns und den französischen Soldaten nur noch wenige Kilometer lagen.

Nach der Ankunft der französischen Armee konnten wir ins Dorf zurückkehren. Ich erinnere mich noch gut daran, wie alle Mädchen und Frauen, Gemeindemitglieder, jung wie alt, Gulasch mit Kartoffeln kochten. Jede Familie war verpflichtet, mindestens ein Zimmer für einen Soldaten zur Verfügung zu stellen. Ein Erlebnis aus diesen Tagen ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Am Bahnhof von Altshausen blieb ein deutscher Güterzug liegen.

Da der Zug verwaist schien, ergriffen wir Dorfbewohner die Chance: Wir nahmen alles, was wir tragen konnten, und luden es auf unseren Leiterwagen. An Mehl und Filzstoff kann ich mich erinnern, sogar das Muster des Stoffes habe ich noch vor Augen. Aus den erbeuteten Stoffen haben meine Tante und andere Frauen später Kleider genäht. Dieser ,Raubzug’ blieb aber nicht lange unbemerkt, die Franzosen griffen hart durch. Manch einer hat deshalb sein Leben verloren.

Anfang 1946 waren wir gezwungen, nach Stuttgart zurückzukehren. Wer bis zu einem vorgeschriebenen Datum nicht in die Stadt zurückgekehrt war, verlor die Wohnberechtigung. Den Weg von Altshausen nach Stuttgart lagen wir auf der Ladefläche eines Lkw unter einer Plane versteckt. Unsere Wohnung in der Heusteigstraße konnten wir nicht mehr bewohnen, weil sie ausgebombt worden war.

Zum Glück lernte meine Mutter durch Zufall an einer Bushaltestelle eine Frau kennen, in deren Haus in der Alexanderstraße noch drei kleine Zimmer frei waren. Wir waren überglücklich, so schnell eine Wohnung gefunden zu haben, denn Wohnraum in Stuttgart war sehr knapp. Aus dieser zufälligen Begegnung entstand eine langjährige Freundschaft.

Zum Überleben benötigten wir dringend die Kriegsrente unseres vermissten Vaters. Diese bekam man jedoch nur, wenn man den vermissten Ehemann für tot erklären ließ. Meine Mutter hatte keine andere Wahl.

Um sich etwas zur Kriegsrente dazu zu verdienen, nähte sie viel für Freunde und Bekannte und ging für eine Mark pro Stunde putzen. Mehr durfte sie nicht verdienen, sonst wäre uns die Kriegsrente gekürzt worden. Gejammert hat meine Mutter nie. Das rechne ich ihr bis heute hoch an.

Die Trauer über den Verlust unseres Vaters und Ehemannes hat uns niemals verlassen. Von seinem Schicksal haben wir bis heute nichts mehr erfahren. Trotzdem erzähle ich meinen Enkelinnen gern über meine Erlebnisse, denn sie haben mich geprägt. Mir ist bewusst, dass meine Familie unglaublich viel Glück im Unglück hatte. Die Hilfsbereitschaft, die wir von anderen erfahren haben, war das größte Glück.“

Aufgezeichnet von Lisa Welzhofer