Karl Vossler mit Amtskette 1927 als Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität in München Foto: Fürstlich Castell’sches Archiv

Der einst gerühmte, in Hohenheim geborene Romanist Karl Vossler ist heute fast vergessen. Eine Erinnerung.

Stuttgart - Seine Wiege stand in Schloss Hohenheim, im Ostflügel der Rokoko-Residenz, wo sich heute die Hochschulbibliothek befindet. Hier hatte der Vater, der viele Jahre Direktor der landwirtschaftlichen Akademie war, seine Dienstwohnung.

Am 6. September 1872 kommt Karl Vossler zur Welt. Über die frühen Jahre des begabten Jungen ist wenig bekannt. Seinen Schulabschluss macht er am humanistischen Gymnasium in Ulm. In Tübingen, Genf, Straßburg und Rom studiert er Germanistik und Romanistik. Seine Doktorarbeit über die deutsche Ausprägung der italienischen Dichtungsform des Madrigals schreibt er in Heidelberg. Hier wendet er sich ganz der Romanistik zu – und sollte in der Folge einer der bedeutendsten Vertreter seines Fachs in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts werden.

Karl Vosslers erste Liebe gehört Italien, fachlich wie persönlich. Im Jahr 1900 heiratet er Esterina Gräfin Gnoli, Tochter eines italienischen Lyrikers und Literaturhistorikers. Die Beziehung zu dem Philosophen Benedetto Croce, dem er bis zu seinem Tod in tiefer Freundschaft verbunden bleibt, wird enger, über Jahrzehnte führen die beiden einen regen Briefwechsel.

Sprache als Dichtung

Es ist die Zeit, da Gelehrte wie der Soziologe Max Weber und der Theologe Ernst Troeltsch den liberalen Geist der Heidelberger Universität prägen. Karl Vosslers erster Auftritt auf dieser akademischen Bühne ist die Programmschrift „Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft“. Mit dem Werk greift der sonst so maßvolle Philologe die damals verbreitete Sprachforschung heftig an. Mit Croce ist Vossler sich einig: Sprache ist kein ausnahmslos von Lautgesetzen bestimmtes Phänomen, Sprache ist in ihrem Wesen Dichtung. Mit der Veröffentlichung gehört er zu den Anführern einer neuen, idealistischen Philologie, er betreibt Stilanalyse und Geistesgeschichte. Zu seinen Schülern zählt der durch seine Tagebücher später bekannt gewordene Victor Klemperer.

Karl Vosslers Ruhm wächst, nicht nur in Deutschland. Das hat viel zu tun mit dem Ansehen seines Fachs im Ausland. „Die deutsche Romanistik ist damals eine internationale Leitwissenschaft gewesen“, sagt Frank-Rutger Hausmann. Der emeritierte Professor der Universität Freiburg gilt als bester Kenner der Geschichte seines Fachs. Dieses hatte eine internationale Ausstrahlung schon in den Jahrzehnten davor, als romanistische Forschung vor allem die Edition mittelalterlicher Texte bedeutete. Die Besonderheit der deutschen Romanistik sei gewesen, „dass sie global alle romanischen Sprachen in den Blick nahm“, sagt Frank-Rutger Hausmann. Nicht die getrennten Nationalphilologien, die Romania im Ganzen war damals ihr Gegenstand.

Eben darin liegt die Vorliebe und die Kunst Karl Vosslers. Sein Augenmerk gilt den vielfältigen Verbindungslinien zwischen den europäischen Literaturen. Als Beispiel hierfür sei ein Abschnitt aus seiner „Italienischen Literaturgeschichte“ angeführt, der von den frühen Anfängen handelt. Darin zitiert Vossler „Dantes geistreiche Vermutung“, dass die ersten in der italienischen Volkssprache verfassten Verse von Minnesängern stammten, die ihre Worte den verehrten Damen, die des Lateinischen nicht mächtig waren, verständlich machten. Dabei standen die ritterlichen Autoren durchaus unter Einfluss von außen. „In der Tat handeln die ältesten italienischen Kunstlieder von der Liebe. Eine glänzende höfische Minnelyrik war in Südfrankreich emporgeblüht, und wanderlustige Trobadors trugen ihre Lieder an die Höfe des benachbarten Oberitaliens, so dass schon am Ende des 12. Jahrhunderts auch oberitalienische Dichter zu singen begannen in der Sprache der Provence, die ihnen etwa ebenso nahestand wie das Italienische und außerdem den Vorzug einer reich ausgebildeten Wort- und Verskunst bot.“

Ein reisefroher Schwabe

Ein eindrucksvolles Beispiel seiner Interpretationskunst liefert Vossler mit der groß angelegten Studie über Dantes „Göttliche Komödie“. Darin leuchtet er den religionsgeschichtlichen, philosophischen und theologischen Hintergrund des bedeutendsten Werks der italienischen Literatur aus, später überträgt er es auch ins Deutsche. Benedetto Croce, Italiens wichtigster Philosoph in diesen Jahrzehnten und sonst nicht zum Überschwang neigend, lobt den Freund, mit dem Buch habe er „die philosophische Erziehung des italienischen Volkes wahrhaft gefördert“. Der Laudator der Stuttgarter Zeitung schreibt anlässlich von Vosslers 75. Geburtstag, dieser habe „den großen Florentiner für die Deutschen eigentlich erst recht erschlossen“. Kein geringes Urteil in einem Land, in dem bis heute etwa 200 Übertragungen der „Göttlichen Komödie“ vorliegen und in dem die erste Dante-Gesellschaft gegründet wurde.

Für einige Jahre wechselt Karl Vossler von Heidelberg nach Würzburg, bis er einem Ruf an die Universität München folgt. Er schreibt unablässig. Frankreich rückt für einige Zeit stärker ins Zentrum seines Schaffens. Er verfasst Bücher über Klassiker wie Racine und La Fontaine, dazu ein durchaus umstrittenes Werk über die Kultur Frankreichs, deren Charakter er aus der Landessprache herleitet. Er macht in späteren Jahren ausgedehnte Vortragsreisen nach Argentinien und nach Kuba. Sein auf den Namen des Großvaters getaufter Sohn Otto nennt ihn einmal einen „reisefrohen Schwaben aus Hohenheim“. Die Liste der Ehrungen wächst. Der Geheime Rat der Bayerischen Staatsregierung ist jetzt Mitglied der Akademien der Wissenschaft in Berlin, Wien, Mailand, Madrid und Buenos Aires, Träger spanischer, portugiesischer und rumänischer Orden sowie des selten verliehenen Pour le Mérite.

München wird dem „eingefleischten Süddeutschen“, wie er selbst einmal über sich sagt, zur zweiten Heimat. Seine zweite Ehe vertieft diese Bindung. Nach dem Tod der geliebten Esterina heiratet Vossler Emma Auguste Thiersch, Tochter eines in der bayerischen Hauptstadt ansässigen Malers und Baumeisters. Das Angebot eines renommierten Lehrstuhls in Berlin lockt ihn nicht mehr aus München weg, auch nicht ein Reichstagsmandat der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei. In einem Brief an Croce schreibt er dazu: „Das würde bedeuten, dass ich alles vernachlässige, was mir am Herzen liegt, von der Frau und den Kindern bis zu den Büchern.“

Ein Ehrengrab und eine nach ihm benannten Straße

Karl Vossler ist zu dieser Zeit in der deutschen Öffentlichkeit eine bekannte Persönlichkeit. „In zahlreichen Umfragen der großen Tageszeitungen (zur nationalen Vergangenheit, zur Kultur, zur Zukunft) taucht sein Name auf“, schreibt Hans Ulrich Gumbrecht, Autor des Buchs „Vom Leben und Sterben der großen Romanisten“.

Seiner alten Heimat bleibt Vossler in all den Jahren verbunden, den Kontakt zu seiner Familie lässt er nie abreißen. Im Januar 1905, er hat eben einen Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur in Rom abgelehnt, erklärt er Croce: „In erster Linie bringe ich es nicht übers Herz, mich so weit von meinen Eltern zu entfernen, die jetzt im Alter noch stärker den Wunsch empfinden, den einzigen Sohn in der Nähe zu haben.“ Auch nach dem Tod des Vaters 1906 bleibt die Verbindung bestehen, Vosslers Mutter Anna Maria lebte noch bis 1940.

Nicht immer sind die Äußerungen des Philologen über Stuttgart schmeichelhaft. Anlässlich eines Artikels „über meinen verehrten Landsmann Hegel“, den Croce in seiner Zeitschrift „Critica“ veröffentlicht hat, schimpft Vossler: „Die dummen Kerle in Stuttgart haben es noch nicht so weit gebracht, ihm ein Denkmal zu errichten!“ Was den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel anlangt, ist dieser Missstand durch ein hübsches Museum und einen angesehenen Preis längst behoben.

Und Vossler? München gedenkt seiner mit einem Ehrengrab und einer nach ihm benannten Straße. Bis zum Jahr 2002, bevor man das Konzept geändert hat, wurde dort alle zwei Jahre der Karl-Vossler-Preis als Bayerischer Literaturpreis vergeben, für wissenschaftliche Darstellungen von literarischem Rang. In seiner alten Heimat erinnert kein Straßenname an ihn.

Vosslers Verhalten in einer unseligen Zeit

Aber besteht Vossler, was sein Verhalten in der Nazizeit anlangt, die strenge Prüfung, die heute zum Standardrepertoire geisteswissenschaftlicher Forschung gehört? Hans Ulrich Gumbrecht, ein namhafter Vertreter der Zunft, findet: Vossler sei „eine besonders sympathische Gestalt aus der Geschichte der Romanistik“, er bewundere dessen Werk und die „brillanten Literatur-Übersetzungen“. Seine Distanzierung vom NS-Regime sei „zu markant, um infrage gestellt werden zu können“. Dennoch hätte sich Gumbrecht ein wenig mehr Heldenmut und nach dem Krieg etwas mehr Bußfertigkeit von Vossler gewünscht.

Dessen spätes Werk steht unter dem Vorbehalt der „inneren Emigration“. In den 1930er Jahren wendet Vossler sich Spanien zu, und hier jener Dichtungstradition, die von der christlichen Mystik geprägt ist. Er verfasst Monografien über schreibende Ordensleute wie die Nonne Inés de la Cruz und den Pater Luis de León. Mit Übertragungen und dem Hauptwerk dieser Jahre, „Poesie der Einsamkeit in Spanien“, erschließt er eine bis dahin weithin unbekannte Literatur des 16. und des 17. Jahrhunderts. In einem Aufsatz über Spaniens große Dichter, in dem er das Personal von Schelmenromanen beschreibt, lobt er die „Kinder des Elends“ für ihren unerschütterlichen Glauben an sich, an Gott und an ihr Land. Vielleicht ist es diese „Widerstandskraft des Herzens und des Geistes“, die Vossler noch Trost spendet in jener unseligen Zeit. „Die Gegensätze sind erschütternd, aber ein echtes spanisches Gemüt zu zerreißen, vermögen sie nicht.“

Während sein Freund Croce in Italien zum Zentrum des liberalen Widerstands gegen Mussolini wird, verstummt Vossler in der Öffentlichkeit. Bis dahin aber macht er aus seiner Haltung keinen Hehl. Im ersten Jahr seines Rektorats an der Universität München tritt er den Studentenverbindungen, die jüdische Korporationen ausschließen wollen, entschieden entgegen. Immer wieder spricht er gegen den „Rassenhass“. 1930 schreibt Vossler öffentlich: „Für mich als Nichtjuden hat die Judenfrage nur diese eine Beunruhigung: Wie werden wir die Schande des Antisemitismus wieder los?“ 1937 wird er von den Nationalsozialisten wegen politischer Unzuverlässigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzt. „Bis 1933 hat Vossler sich mit den Nazis angelegt“, sagt Frank-Rutger Hausmann. „Ich kenne sonst keinen Romanisten, der das getan hat.“ Weil das so war, wird der Emeritus nach dem Krieg, schon 74, nochmals kurz Rektor der Hochschule, 1949 stirbt er.

Hat nun das Denken und Handeln des Weltbürgers Karl Vossler überhaupt etwas zu tun mit seiner Herkunft? Es gibt Antworten, wenn auch spekulative. Hugo Friedrich, selbst ein bedeutender und von Vossler beeinflusster Gelehrter, schreibt über ihn: „Der hochgewachsene Schwabe mit dem bäuerlich kräftigen Kopf eines spanischen Caballero und den auffallend buschigen Augenbrauen blieb bis ans Ende den Erbtümern seiner Heimat treu: einem Idealismus, der hütet, was schön und nobel ist, und einer Nüchternheit, die alles Verstiegene, Übergescheite, Herausgeputzte mit dem Dolch des Sarkasmus erledigte.“