Thomas Karzeleke mit seiner Tochter vor ihrer Entführung. Dass Eltern oft jahrelang um ihren Nachwuchs streiten, komme häufig vor, sagt der Psychiater Michael Günter. Foto: privat

Der Fall der entführten Lara erregt Aufsehen, in Deutschland und in Polen. Michael Günter, der ärztliche Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Stuttgart, erklärt im Interview, was seiner Meinung nach passieren muss. Sein Rat wird nicht jedem gefallen.

Ditzingen - Seit Lara zwei Jahre ist, streiten sich ihre Eltern ums Sorgerecht – und der Streit wurde zur Familientragödie. Vor zweieinhalb Jahren entführte die polnische Mutter das Kind und verschleppte es aus dem Strohgäu nach Polen. Erst vor zwei Wochen hat die Polizei das Versteck ausfindig gemacht, doch das Gezerre geht weiter. Am Freitag hat ein polnisches Amtsgericht die inzwischen Siebenjährige vorerst wieder in die Obhut der Mutter gegeben – und damit in die Hände einer verurteilten Entführerin. Der Vater ist verzweifelt, will seine Tochter so schnell wie möglich zurück nach Deutschland holen. Michael Günter kennt den Fall aus den Medien, der ärztliche Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Stuttgart hat viel Erfahrung mit derartigen Konflikten. Im Interview erklärt er, wie ein Kind solche Traumata verarbeiten kann – und was seiner Meinung nach nun passieren müsste.

Michael Günter Foto: privat
Herr Günter, kann es für ein Kind, das so viel Schreckliches erlebt hat wie Lara, einen Weg zurück in die Normalität geben?
Natürlich gibt es einen Weg. Es ist sogar eher wahrscheinlich, dass ein Kind sich nach einer relativ kurzen Zeit wieder eingliedert. Aber das heißt nicht, dass es nicht schwer belastet ist. Und es bleibt schwierig, mit dem Erlebten umzugehen.
Was für Symptome entwickelt ein traumatisiertes Kind?
Nicht selten ist es nach kurzer Zeit äußerlich relativ symptomfrei, oft entwickeln sich jedoch vielfältige Auffälligkeiten, schwere Ängste, Aggressionen, Wutanfälle, wahlloses Bindungsverhalten, fehlendes Vertrauen, Horten von Essen. Fast jede Art von Auffälligkeit kann auftreten.
Wovon hängt es ab, ob das Kind eine gute Entwicklung nimmt?
Einerseits von dem Kind selbst, von der inneren Stabilität. Natürlich aber auch von dem Milieu, in das es nun kommt.
In diesem Fall scheinen sich Mutter und Vater regelrecht zu hassen.
Das ist sehr schwierig für ein Kind. Wir wissen, dass Trennungen von Kindern gut verkraftet werden – außer, die Eltern haben anhaltend schwere Konflikte, damit kann ein Kind schlecht umgehen. Hier kommt hinzu: Man weiß gar nicht, unter welchen Bedingungen das Mädchen die vergangenen Jahre gelebt hat. War es eingeschlossen im Haus, konnte es raus? Dazu die vielen Beziehungsabbrüche: Erst wurde es dem Vater entrissen, dann war auch die Mutter weg. Jetzt ist die Großmutter, die vermutlich zuletzt die wichtigste Bezugsperson war, weg. Diese vielen plötzlichen Verluste schädigen ein Kind nachhaltig.
Inwiefern?
Die widerrechtliche Entführung durch die Mutter und das anschließende systematische Schlechtmachen des Vaters stürzen das Kind in einen schweren Loyalitätskonflikt, den es kaum aushalten kann. Das ist schlimmer noch als bei zerstrittenen Eltern, die keinerlei Rücksicht darauf nehmen, dass das Kind beide liebt.
Können Kinder so etwas vergessen?
Eher verdrängen sie es, möchten nicht mehr darüber reden. Aber solche schlimmen Erlebnisse bleiben trotzdem wirksam, führen zu einer Grundangst, einer Grundunsicherheit.
Lara wurde zweieinhalb Jahre in Polen versteckt. Versteht ein Kind im Alter zwischen fünf und sieben Jahren überhaupt, was da vor sich geht?
Atmosphärisch bekommen Kinder sehr genau mit, was da Schlimmes mit ihnen passiert. Hinzu kommt: Das Mädchen war in dieser Zeit nicht in der Schule. Es hatte keine sozialen Kontakte nach außen und zu Gleichaltrigen, konnte sich überhaupt nicht altersgerecht entwickeln, war völlig von der Oma abhängig, auch das ist eine enorme Beeinträchtigung.
Was muss jetzt passieren?
Man muss jetzt schnell dafür sorgen, dass das Mädchen in einen angemessenen Kontext kommt. Idealerweise erst einmal in Polen, wo die Sprache vertraut ist, aber zugleich muss der Vater ganz intensiv einbezogen und für es da sein. Wenn Lara sich in den nächsten Wochen wieder an den Vater gewöhnt, Vertrauen aufbaut, sollte irgendwann der Moment kommen, in dem der Vater sagen kann: Jetzt wird alles gut, jetzt nehme ich dich mit nach Hause.
Das müssen die polnischen Behörden erst einmal erlauben, und danach sieht es gerade nicht aus. Der Vater hat in Deutschland das alleinige Sorgerecht zugesprochen bekommen, aber in Polen ist die Meinung weit verbreitet, dass ein Kind zur Mutter gehört.
Lara wird eine Erinnerung daran haben, dass Mama diejenige war, die sie entführt und vom Papa weggerissen hat. Sie war damals fünf Jahre alt, und daran erinnert sie sich. Soweit ich das von außen beurteilen kann, handelte die Mutter völlig verantwortungslos. Selbst nachdem sie verurteilt wurde, hat sie noch ihre eigenen Interessen über die ihres Kindes gestellt, indem sie Lara bei der Großmutter versteckte.
Ist das wirklich eine Entweder-oder-Frage: Entweder Vater oder Mutter?
Im Moment würde ich das so sehen. Ein Elternteil, der derart sträflich das Wohl des Kindes schwer beeinträchtigt und – durchaus möglich aus eigener Verzweiflung heraus – solche Straftaten gegen das Kind begeht, kann dem Kind nicht einfach weiter zugemutet werden. Eine gesunde Beziehung zur Mutter kann allenfalls wieder aufgebaut werden, wenn diese selbst eine Therapie macht und deutlich macht, dass sie in einer anderen Verfassung ist. Dass sie Reue zeigt und versteht, dass sie einen großen Fehler gemacht hat, und sich in geeigneter Weise bei ihrem Kind entschuldigt für das, was sie ihm angetan hat. Sonst würde man das Mädchen wieder einer permanenten Bedrohung aussetzen.
Kommt es häufig vor, dass Eltern sich derart zerfleischen?
Leider ja. Es gibt viele Beispiele, dass sich Eltern über 15 oder 20 Jahre streiten, sich gegenseitig bekämpfen und vor dem Kind Übles übereinander reden.
Aber dieser Fall ist schon extrem?
Dass Eltern ihre Kinder entführen, kommt sehr selten vor. Dafür ist immerhin eine hohe kriminelle Energie vonnöten.
Die Mutter sieht sich nicht als Kriminelle. Sie sagt, sie liebe ihr Kind, müsse Lara vor dem bösen Vater schützen.
Natürlich ist eine Mutter anders emotional beteiligt als ein gewöhnlicher Krimineller. Aber im Grunde hat das auch keine anderen Folgen als eine Entführung, mit der man Geld erpressen will. Die Mutter nimmt keine Rücksicht und verfolgt nur ihre eigenen Interessen. Wer sein Kind verschleppt, in diesem Fall sogar unter Anwendung von Gewalt, hat sich in höchst krimineller Weise an den Rechten dieses Kindes vergangen – egal, welche Begründung die Mutter sich für dieses Verhalten zurechtlegt. Es mag natürlich sein, dass die Mutter nicht nur verzweifelt, sondern selbst krank ist.
Die Mutter sieht sich ungerecht behandelt. Sie sagt, als Polin habe sie vor den deutschen Gerichten, auch im Sorgerechtsverfahren, keine Chance gehabt.
Das mag sein, dass sie es so sieht. Trotzdem handelte sie kriminell. Und deswegen kann man doch jetzt nicht sagen: Schwamm drüber, wir geben das Kind der Mutter, es wird schon alles gut. Nichts ist gut. Die Frage ist jetzt nur, was auf Dauer gesehen die geringste Belastung für das Kind ist.
Also zum Vater?
Auch das ist eine Belastung, auch beim Vater wird für das Kind sicher nicht alles gut, aber ich denke, dass es die geringere Belastung ist. Wichtig wäre dann aber, dass es dem Vater gelingt, die Mutter nicht schlechtzumachen. Er müsste dem Kind vermitteln, dass die Mama einen Fehler gemacht hat, aber eben sehr verzweifelt war.
Wer reagiert bösartiger in Familienstreitigkeiten: Frauen oder Männer?
Das hängt sehr von der Persönlichkeitsstruktur ab. Menschen, die keine Rücksicht auf andere nehmen können, sind häufig in ihrer Persönlichkeit gestört. Das hängt nicht vom Geschlecht ab.
Aber es gibt Unterschiede.
Durchaus. Männer agieren in solchen Situationen häufig aus einer narzisstischen Kränkung heraus, fühlen sich in ihrem Stolz und ihrer Ehre verletzt, kämpfen ums Prinzip. Frauen hingegen argumentieren mit ihrer Bindung ans Kind und werden dann rabiat.

Karriere –
Michael Günter, 60, hat in Tübingen und Wien Medizin, Kunstgeschichte und empirische Kulturwissenschaften studiert und wurde danach Facharzt für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. An der Uniklinik in Tübingen war er kommissarischer ärztlicher Direktor, seit dreieinhalb Jahren ist er ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Stuttgart.

Gutachter
– Günter ist unter anderem Experte für Familienstreitigkeiten. Seit 34 Jahren erstellt er im Auftrag von Gerichten Gutachten in Strafverfahren, aber auch Sorgerechts- oder Umgangsrechtsverfahren.