Kühlturm eines Kraftwerks im Abendhimmel. Foto: dpa

Um seine Energieversorgung sicher zu gestalten, hängt Deutschland von ausländischen Kraftwerken ab. Das ist im Europa ohne Grenzen ein normaler Vorgang. Dennoch kommt es im Winter immer wieder zu kritischen Situationen im deutschen Netz.

Stuttgart/Berlin - Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat sich beim Treffpunkt Foyer der Stuttgarter Nachrichten über den Stand der Energiewende beklagt. „Da passt nichts zusammen“ sagte er auf der Podiumsveranstaltung und mahnte einen raschen Ausbau der Stromnetze an. In Süddeutschland werde ein Atomkraftwerk nach dem anderen abgeschaltet. Weil der im Norden im Überfluss produzierte Windstrom aber wegen fehlender Leitungen nicht in den Süden komme, müsse dort manchmal Strom aus veralteten Öl-Kraftwerken in Österreich zugekauft werden. „Die Kollegen in Österreich kommen vor Lachen nicht aus dem Schlaf.“ Wie steht es um die Energiewende in Deutschland? Fragen und Antworten.

Wie sicher ist die Versorgung in Deutschland?

Kein Zweifel: Seit das deutsche Energiesystem durch den Umbau hin zu erneuerbaren Energien, die Abschaltung von acht Kernkraftwerken im Frühjahr 2011 und den kompletten Atomausstieg bis 2022 kräftig durcheinandergewirbelt wurde, wird es für die Energiewirtschaft immer schwieriger, die Versorgungssicherheit im Land sicherzustellen. Die Übertragungsnetzbetreiber – etwa die EnBW-Tochter Transnetz-BW – müssen immer häufiger in die Strom-Netze eingreifen, um Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht zu halten. Kippt die labile Netzfrequenz in den großen deutschen Stromleitungen, weil irgendwo ein Windpark plötzlich in der Flaute steht oder ein großes Stahlwerk seine Bänder hochfährt, wird es kritisch. Das belegen die Zahlen. Musste Transnet-BW im Jahr 2010 noch 37 Mal ins baden-württembergische Netz eingreifen, seien allein im bisherigen Jahresverlauf 2014 nach Angaben einer Transnet-Sprecherin schon 206 Eingriffe nötig gewesen, um die Versorgung zu sichern. Ähnlich sieht es auch bei den übrigen Netzbetreibern Tennet, Amprion und 50 Hertz aus. Ihr Aufwand steigt permanent.
 

Welches Wetter führt zu kritischen Situationen?

Gefürchtet sind Stürme über Norddeutschland, die innerhalb weniger Minuten tausende Windräder unter Volllast setzen. Ende Januar 2013 kam es zu so einer Lage. Innerhalb kurzer Zeit verzwanzigfachte sich damals das Windstromaufkommen in Norddeutschland. Statt einem Gigawatt drückten plötzlich 20 Gigawatt in die Leitungen. Weil wichtige Stromtrassen von Nord nach Süd fehlten, konnte sich die Energie– bildlich gesprochen – nicht schnell genug in ganz Deutschland verteilen. Der Kollaps konnte nur verhindert werden, weil drei österreichische und ein hessischer Meiler innerhalb kürzester zeit angefahren wurden.
 

Welche Rolle spielen die Stromnetze?

Das Hauptproblem Deutschlands ist nicht Strommangel, sondern Netze, die ihn dorthin transportieren können, wo er gebraucht wird – Situationen wie im Januar 2013 unterstreichen diese Sicht. Aber Bürgerproteste und dauernde politische Querschüsse – etwa aus Bayern – bremsen die nötigen Projekte. Im Fokus stehen dabei insbesondere drei Gleichstromtrassen, die Energie von den deutschen Küsten in die Zentren Süddeutschlands bringen sollen. Das der Netzausbau aktuell nur schleppend vorankommt und gleichzeitig keine neuen Kraftwerke gebaut werden, sind zwei der größten bislang ungelösten politischen Probleme im Energiebereich.
 

Wie kritisch sind kalte Winter?

Der Winter stellt die Netzbetreiber regelmäßig mittlerweile regelmäßig vor Herausforderungen. Der Februar 2012 stellt hier eine Zäsur dar. Damals führte eine wochenlange Kältephase in ganz Europa im Zusammenspiel mit ausbleibenden Gaslieferungen aus Russland zu einem partiellen Kollaps der deutschen Energieversorgung. Weil zu wenig Gas vorhanden war, verschickten Stadtwerke Aufforderungen an ihre Kunden, die Raumtemperatur zu senken oder schalteten kleine Blockheizkraftwerke ab. In Karlsruhe musste sogar ein großes Gaskraftwerk vom Netz, weil der Nachschub an Brennstoff stockte. Damit geriet auch die Stromversorgung ins Wanken. Kurzfristig – und erstmals – mussten ausländische Kraftwerke in großem Umfang angezapft werden, um einen Blackout in Deutschland zu vermeiden.
 

Was ist seit der Februarkrise 2012 passiert?

Energiesicherheit kam oben auf die Agenda der Versorger. Speziell Baden-Württemberg und Bayern machten Druck. In Süddeutschland deckten bislang Kernkraftwerke die Energieversorgung in hohem Maße ab. Das Aus für die Technologie sorgt nun für Versorgungslücken, die geschlossen werden müssen. Nach langen politischen Diskussionen stellte im Jahr 2013 eine Reservekraftwerksverordnung die Notfall-Versorgung Deutschlands mit Strom auf ganz neue Beine. Seither müssen Energieversorger, die Kraftwerke stilllegen wollen, dies ein Jahr im Voraus anmelden. Wenn die Anlage wichtig für die Versorgung ist, muss sie weiterbetrieben werden. Aus diesem Grund muss beispielsweise die EnBW ihre Kraftwerke in Marbach und Walheim laufen lassen – sie sind systemrelevant und müssen ebenso wie ein Kohlekraftwerk in Mannheim für Notfälle da sein. Nach aktuellen Daten der Bonner Bundesnetzagentur (BnetzA) kommen so deutsche Reservekraftwerke mit einer Leistung von 2242 Megawatt zusammen. Rein rechnerisch steht also die Leistung zweier Kernkraftwerke für Notfälle in der Hinterhand bereit.
 

Welche Rolle spielt das Ausland?

Die Bedeutung des Auslands wird immer größer. Die deutschen Netzbetreiber schließen in zunehmendem Maß Verträge mit ausländischen Energieversorgern und sichern sich Energielieferungen für den Winter. Österreich kann so nach BnetzA-Daten in diesem Winter im Notfall mit 785 Megawatt Kraftwerksleistung einspringen. Der Betrag, verteilt sich nach Informationen aus Branchenkreisen auf diverse Öl- und Kohlebefeuerte Anlagen des Berteibers EVN. Italien kann Deutschland im Notfall über Alpenleitungen 609 Megawatt zur Verfügung stellen. Auch die Schweiz lieferte in der Vergangenheit schon Energie, wenn es brenzlig wurde. Dabei steigt die Zahl der Notfall-Meiler rasant. Müssen dieses Jahr in Summe rund 3600 Megawatt vorgehalten werden, sind es im folgenden Winter 6000 Megawatt, danach schon 7000 Megawatt Kraftwerksreserven.
 

Was bedeutet das für die Stromkosten?

Die Bereitstellung von Notfall-Strom über Reservekraftwerke ist einer der Sprengsätze unter den Energiekosten in den kommenden Jahren. Die Aufrechterhaltung des Betriebs in den oft alten und Ineffizienten Kraftwerken kostet viel Geld, das zum Großteil über die Netznutzungsentgelte auf die Verbraucher umgelegt wird. Bereits in diesem Jahr führte der Effekt zu einer spürbaren Steigerung der Netzkosten in Baden-Württemberg – ein Trend, der weitergehen wird.