Hochspannungsleitung für 380.000 Volt: Die Energietrassen gelten als Nadelöhr im deutschen Stromsystem. Deren Kontrolleure haben alle Hände voll zu tun. Foto: dapd

Die Stromtrassen im Land werden immer stärker belastet – Zu Besuch beim Energiekonzern EnBW.

Wendlingen - Anfang Februar kamen die Ingenieure in der Netzleitzentrale der Transnet BW ziemlich ins Schwitzen, obwohl es draußen dicke Minusgrade hatte – oder besser gesagt genau deswegen. Auf dem wandgroßen Kontrollbildschirm, der die Energieflüsse in ganz Baden-Württemberg abbildet und der wie ein Riesenmonitor über der Leitzentrale prangt, geschahen plötzlich Dinge, die so eigentlich nie vorgesehen waren. In den industriellen Zentren des Landes zeichnete sich eine Unterversorgung an Energie ab. Die Leitungen, die Strom heranschaffen sollten, glühten.

Bereits Tage zuvor hatten die Wendlinger Experten die Situation kommen sehen und Alarm geschlagen. Eine Kältewelle hatte Europa fest im Griff, und alles was in Industrie und Haushalten zum Heizen eingesetzt werden konnte, wurde angeworfen. Pech nur, dass erst vor wenigen Monaten – im März 2011 – insgesamt fünf Atommeiler in Süddeutschland vom Netz gingen, für die bis heute kein Ersatz vorhanden ist. Allein in Baden-Württemberg fehlen aktuell 1,8 Gigawatt Leistung.

„In diesen Tagen hatten wir eine Situation, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten nicht gesehen haben“, sagt Markus Fürst, Leiter Systemführung bei der EnBW-Tochter Transnet BW. Am 9. Februar etwa war im deutschen Netz dreimal minutenlang nicht genügend Strom vorhanden, um die Nachfrage zu decken. Nur weil Kraftwerke in Österreich angezapft wurden und ein Notfall-Meiler in Mannheim hochgefahren wurde, blieb die Lage stabil. „Auf Kante“ sei das System damals gefahren worden, sagt Fürst.

Kraftwerke mussten abgestellt werden

Verschärft wurde das Problem durch ausbleibende russische Gaslieferungen. Der Engpass war so dramatisch, dass in Süddeutschland Kraftwerke abgestellt werden mussten, weil kein Brennstoff mehr da war. Der durch den Atomausstieg schon abgespeckte Kraftwerkspark wurde also noch zusätzlich ausgedünnt. Die gesamte Stromerzeugung und der Transport der Energie über die riesigen Überlandleitungen sei damals „extrem gestresst“ gewesen, sagt Fürst.

Dass die Lage weitaus kritischer war, als zunächst bekannt, war auch der Politik klar. Eine Woche später meldete sich Energieminister Franz Untersteller (Grüne) zur Stippvisite in Wendlingen an und lobte, „wie engagiert und professionell“ die Mitarbeiter die Lage in solch einer „schwierigen Situation“ gemeistert hätten.

Dass der Minister den akkuraten Ingenieuren in ihren Karohemden seine Aufwartung machte, kam nicht von ungefähr. Denn Wendlingen nimmt eine Schlüsselposition im süddeutschen, ja sogar im europäischen Energiesystem ein. Von der futuristisch anmutenden und durch eine Zugangsschleuse gesicherten Leitzentrale aus werden die Stromflüsse in ganz Baden-Württemberg gesteuert und überwacht. Zusätzlich wird hier der Stromaustausch mit den Nachbarstaaten abgewickelt. Zur Not können die Ingenieure in Wendlingen mit einem Knopfdruck kilometerlange Leitungen abschalten und damit Kraftwerke stilllegen.

Wendlingen als Spinne

Wenn man die süddeutschen Hochspannungsleitungen – also die Autobahnen im Energiesystem – als Netz sehen will,dann ist Wendlingen die Spinne, die in der Mitte sitzt und die Fäden in der Hand hält. Knapp 3300 Kilometer Hochspannungsleitungen werden von den bald 380 Mitarbeitern der Transnet BW insgesamt überwacht. Im Dreischicht-Betrieb und sieben Tage die Woche.

Früher war das einmal ein verantwortungsvoller, aber auch ein ziemlich gemächlicher Job. Seit durch den Solarboom in Süddeutschland aber immer mehr Fotovoltaikanlagen ans Netz gehen und im Norden und Osten der Republik Windräder wie Pilze aus dem Boden schießen, haben die Spezialisten von Transnet BW und der anderen drei deutschen Netzbetreiber, Amprion, 50 Hertz und Tennet, fast jeden Tag mehrere Probleme auf dem Schreibtisch.

Immer öfter Blackouts verhindern

Das Grundproblem: Anders als früher wird der Strom zunehmend nicht mehr da erzeugt, wo er auch abgenommen wird. Der alte Grundsatz, wonach die Kraftwerke da errichtet werden sollen, wo auch die Last in Form der großen Stromabnehmer ist, wird durch die Energiewende mit ihren vielen dezentralen Kleinanlagen außer Kraft gesetzt. Als Folge steigt der Bedarf an Transportnetzen für Strom gewaltig – und damit die Bedeutung der Wendlinger Spezialisten.

Dass der Netzausbau derzeit nicht im Ansatz mit dem Boom bei Solar- und Windkraft mithält, bekommen die Techniker dabei jeden Tag zu spüren. Allein zwischen 2010 und 2011 hat sich die Anzahl der Tage, an denen die Experten in Wendlingen ins Netz eingreifen mussten, um Blackouts oder größere Störungen zu verhindern, mehr als vervierfacht. Das System lässt sich nur noch durch ständiges Nachsteuern sicher betreiben, sagt Fürst.

Windstrom nur schwer weiterleitbar

Immer öfter gerät Deutschlands Stromversorgung, die vor Jahrzehnten auf einen kontinuierlichen Stromfluss aus Großkraftwerken ausgelegt wurde, im Zeitalter der erneuerbaren Energien an seine Grenzen. Bisher sind es vor allem die enormen Mengen an Windstrom aus Norddeutschland, die nur schwer in die Lastzentren nach Süddeutschland weitergeleitet werden können, sagt Transnet-BW-Geschäftsführer Rainer Joswig.

Speziell der Sonnenstrom, der allein in Baden-Württemberg von mehr als 230.000 Anlagen erzeugt wird, droht zu einem weiteren Sprengsatz im System zu werden. Bisher wird er hauptsächlich durch die engmaschigen Verteilnetze aufgenommen und abgeleitet. In Zukunft könnte er aber auch die Hochspannungsleitungen verstopfen. „Das ist so, wie wenn plötzlich Hunderte Autos gleichzeitig auf die Autobahn wollen“, sagt Fürst. Dann herrscht akute Staugefahr .“

Um das Problem zu lösen, experimentiert Transnet BW derzeit mit Masten auf die neben den herkömmlichen Leitungen auch Gleichstromkabel gelegt werden könnten, was die Kapazität der Trassen stark erhöhen würde. Daneben setzen die Fachleute auf eine bessere Verzahnung der Netzgebiete mit den Nachbarstaaten. Das so entstehende atmende Energiesystem soll Engpässe in einzelnen Ländern besser abfedern können.

Bei einer kontinentalen Kältewelle wie im vergangenen Februar hätte das allerdings auch nichts gebracht. Damals klopfte sogar die Atomenergienation Frankreich bei Deutschland an: Der Grund: Die Franzosen wollten Strom.