Historiker Achim Bonenschäfer mit den beiden Stuttgarter Mühlenatlas-Bänden. Foto: factum/Granville

145 Mühlen gab es einst in der Landeshauptstadt. Der Historiker Achim Bonenschäfer aus Ludwigsburg hat sie alle im ersten Stuttgarter Mühlenatlas aufgelistet. Dazu liefert er Einblicke, wie die Wasserkraft die Basis bildete für die Industrialisierung des Raums Stuttgart.

Stuttgart/Ludwigsburg - Nein, nein, wehrt Achim Bonenschäfer lachend ab: „Ich bin kein Handwerker, kein Müller, habe auch keine Müller in der Verwandtschaft.“ Ja, selbst eine große Leidenschaft für die Müllerei könne er nicht vorweisen, schiebt er entsprechenden Vermutungen einen Riegel vor. Denn: Der Mann aus dem Ludwigsburger Stadtteil Ossweil ist Wissenschaftler, genauer: Historiker. Und dass er sich so intensiv mit den Mühlen im Stadtkreis Stuttgart beschäftigt hat, sei eine simple Auftragsarbeit gewesen. Entstand die zweibändige Arbeit doch als Dissertation am Historischen Institut der Universität Stuttgart.

Der Neckar lieferte einst die Energie für die Residenzstadt Stuttgart. Auch wenn mit der Dampfkraft eine neue Energiequelle zur Verfügung stand, setzten die Stuttgarter auf die Wasserkraft, um die Industrialisierung voranzubringen, heißt es auch im Vorwort der Mühlenatlas-Herausgeber, der Professoren Franz Quarthal und Gerhard Fritz.

Bonenschäfer beleuchtet jedoch auch bereits die Zeit davor, als die Müller einen schlechten Ruf hatten und immer wieder Klagen ausgesetzt waren. In den Stuttgarter Quellen, so der Autor, finden sich zahlreiche Hinweise auf Verstöße der Müller gegen wasserrechtliche Vorschriften. Auch wechselseitig machten sich die Müller das Leben schwer, bezichtigten den Konkurrenten der Trunksucht. „Der Vorwurf des Alkoholismus ist offenbar zeitlos: Bei den Recherchen zum Mühlenatlas Stuttgart sagten Zeugen wiederholt aus, dass konkurrierende Müller, die bis vor einigen Jahrzehnten gearbeitet haben, Alkoholiker gewesen seien“, so Bonenschäfers Erkenntnis.

Unternehmen wurden an Bächen und Flüssen angesiedelt

In der Zeit vor der Einführung der Dampfkraft in Württemberg, also bis um 1840, waren die größten existierenden Maschinen Einrichtungen, die durch Wasser getrieben wurden. Wasser war die Antriebskraft der vorindustriellen Phase. Unternehmen wurden vorzugsweise an Bächen und Flüssen angesiedelt, um diese traditionelle Energiequelle zu nutzen. Dies auch, weil der Kohlentransport auf dem Neckar nicht möglich und somit eine andere Energiegewinnung schwierig war. Auf die Beförderung mit der Eisenbahn vom Mannheimer Hafen aus in Richtung Stuttgart wurde zumeist verzichtet, da dies den Brennstoff Kohle doppelt so teuer wie im Ruhrgebiet oder im Saarland machte. „Daher blieb die Wasserkraft die Hauptenergiequelle in Württemberg“, urteilt Bonenschäfer.

Der Historiker beleuchtet im Atlas nahezu sämtliche Aspekte des Müllerwesens, geht auf die Entwicklung wie auf Schwierigkeiten ein. Mussten die Unternehmer doch auf Schifffahrt und Flößerei Rücksicht nehmen. An den Bächen blieb den Wasserwerkbetreibern die uralte natürliche Feindschaft zu den Besitzern der oberhalb gelegenen Wiesen, die das Wasser zur Bewirtschaftung ihres eigenen Besitzes brauchten. „Um den Oberlieger nicht durch Hinterwasser zu schädigen und um angrenzende Grundstücke nicht versumpfen zu lassen, wurde die zulässige Maximalstauhöhe der Mühle äußerst genau festgelegt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts ging es um Millimeter.“

Bonenschäfer listet die verschiedenen Mühlentypen auf – etwa Getreidemühlen, Sägmühlen, Ölmühlen, Walkmühlen, Gipsmühlen, Tabakmühlen, Pudermühlen. Er erläutert akribisch die Wassertechnik, berichtet von Wehren, Mühlkanälen und Schwellseen, beschreibt Wasserräder und Turbinen. Den größten Raum in seiner Expertise nehmen die Einzeldarstellungen der vielen Mühlen vor allem am Neckar mit den Stadtteilen Cannstatt, Untertürkheim, Obertürkheim, Berg oder Mühlhausen ein – sei’s die Schleifmühle Schimpf in Berg, die später zur Tuchfabrik Klotz und nochmals zur Maschinenfabrik Koch wurde. 1839 wurde die am Sauerbrunnengraben unmittelbar neben seinem Industriebetrieb eingerichtete Badeanstalt 1851 vom neuen Besitzer Ludwig Friedrich Karl Leuze ausgebaut. 1860 erfolgten der Einbau von zwei Badkabinen und zwei Bassins im Sauerbrunnengraben. Der Vorläufer des späteren Leuze-Bads.

Landkarten zeigen den ursprünglichen Verlauf des Neckars

Während der erste, 288 Seiten starke Band des Mühlenatlas zahlreiche Texte und Beschreibungen in petto hat, bietet der zweite, 168 Seiten starke Band mehr fürs Auge. Dort werden auf Karten der ursprüngliche mäandernde Verlauf des Neckars und die spätere schnurgerade Lösung zur neuen Energiegewinnung dargestellt. Ebenso viel Freude bereiten dem Betrachter die Fotografien – etwa vom Untertürkheimer Mühlkanal Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Vogelperspektive oder die Abbildung des alten Berger Mühlenviertels. Ein Stich aus dem Jahr 1624 von Matthäus Merian wiederum geht weiter zurück in die Vergangenheit und zeigt die Hintere und Vordere Mühle in Berg.

Für seine Arbeit wühlte Bonenschäfer nicht nur jahrelang in abgedunkelten Sälen und stöberte durch Akten und Archive. Der Forscher unternahm auch viele Ortsbegehungen und legte dabei zu Fuß sowie mit den Stadtbahnen sicher Hunderte von Kilometern zurück – etwa um zu prüfen,. ob der in den Karten eingezeichnete Nebenbach tatsächlich mal dort geflossen sein könnte. „Das ist ja, gerade im Vergleich zum Rems-Murr-Kreis, ein sehr eng gefasstes Gebiet, da kommt man mit der U-Bahn oder Bus überall hin“, so der ÖPNV-Fan – sei’s ins Körschtal, in den Wald bei Hedelfingen, ins Feuerbachtal oder zu den Seen im Wildpark.

Hintergrund

Fünf Bände der Reihe „Mühlenatlas Baden-Württemberg“ gibt es bereits – und zwar für die Stadt Ulm, den Rems-Murr-Kreis, den Landkreis Ludwigsburg, den Stadt- und Landkreis Heilbronn und den Landkreis Schwäbisch Hall. Dahinter steht der Landesverband der Deutschen Gesellschaft für Mühlenkunde und Mühlenerhaltung.

Der sechste Atlas ist nun jener von Achim Bonenschäfer über den Stadtkreis Stuttgart. Erschienen sind die beiden Bände über Stuttgart im Verlag Manfred Hennecke in Remshalden (je 20 Euro). Anders als seine Vorgänger geht Bonenschäfer auch auf historische Kontexte ein, analysiert die Bedingungen für die Müller, die Schwierigkeiten und auch ihre oft kärgliche Existenz.

Bonenschäfer selbst ist 1972 in Bochum geboren. Er wuchs in Waiblingen auf, studierte später an der Universität Stuttgart unter anderem Anglistik und Geschichte und war Lehrer für private Nachhilfeschulen in Schorndorf und Waiblingen. An seinem Wohnort Ludwigsburg-Ossweil betreibt er unter dem Titel „Wort und Sinn“ eine Privatschule für Sprachen und Literatur.

Vortrag:

Vortrag: Über die Mühlen an Neckar und Feuerbach referiert Achim Bonenschäfer am Mittwoch, 25. November, um 19 Uhr im Bezirksrathaus Mühlhausen. (her)