Der Wahlkampf ist überall – hier am Hermsdorfer Kreuz in Thüringen. Foto: dpa

Noch einmal alles geben, die letzten Unentschlossenen überzeugen, den Trend wieder umdrehen: Am Wahlwochenende geben viele Bundestagskandidaten und viele Wahlhelfer noch einmal alles – von Berglen-Bretzenacker bis Berlin.

Stuttgart - Wahlkampf ist anstrengend, zermürbend für den, der in den Umfragen zurückliegt. Da braucht es einen Mut- und Muntermacher. Den gibt es: Es ist die Hoffnung auf die Zahl der unentschlossenen Wähler. Auf den letzten Metern kann sich der berühmte „last-minute-swing“ einstellen, der Umschwung in allerletzter Minute. Um ihn herbeizuführen – oder zu verhindern –, rühren die Parteien bis zuletzt die Werbetrommel. Noch in den 70er Jahren trafen nur fünf Prozent der Wähler ihre Entscheidung in der letzten Woche vor der Wahl. Das hat sich schon bei den Wahlen 2005 und 2009 geändert. Forsa-Chef Manfred Güllner sah Anfang dieser Woche noch rund zehn Prozent der Wähler unentschlossen. Stefan Merz, Direktor Wahlen bei Infratest dimap, erkannte zu Beginn der letzten Wahlwoche 37 Prozent nicht entschiedene Wähler, von denen wohl um die 20 Prozent gar nicht wählen werden. Der Rest wäre also noch ansprechbar.

Martin Schulz und die SPD-Granden

Dementsprechend hängen sich die Parteien auf den letzten Metern noch rein. Im Herzen Berlins, auf dem Gendarmenmarkt, nähert sich Martin Schulz am Freitagabend dem Ende des Tunnels, an dem immer weniger Genossen Licht erkennen können. Dieser Auftritt noch und am Samstag dann ein letztes Aufbäumen in Aachen, danach bleibt dem 61-Jährigen nichts als Warten. Die Institute verheißen Schlimmes, die SPD liegt bei knapp über 20 Prozent. Es ist ein Schauspiel auf mehreren Ebenen, das deshalb bei der SPD abläuft. Abseits der Bühnen reden die SPD-Granden schon über die Zeit nach der Wahl, auf dem Gendarmenmarkt schwenken die Unverdrossenen im Kontrast dazu an diesem schönen Herbstabend euphorisch ihre „Jetzt ist Schulz“-Pappschildchen. Das erinnert an die Zeit im Frühjahr, als Schulz von vielen „Gottkanzler“ genannt wurde – fleischgewordene Verheißung der SPD.

Geblieben ist ein schwitzender, mit Händen und Armen rudernder Kämpfer, einer, der bis zum Schluss alles gibt, der Parteichef bleiben will. Am Sonntag, Punkt 18 Uhr, wird das Kämpfen nichts mehr wert sein, dann zählen Zahlen. Dann geht es um die politische Existenz von Martin Schulz. Und letztlich auch um die Existenz der SPD.

Seehofer hat die besten Karten

Angela Merkel hat einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Ort für den Schlussspurt gewählt: Bayerns Hauptstadt München. Was hat CSU-Chef Horst Seehofer nicht auf Merkel rumgehackt! Trotzdem hat die CDU-Oberschwester in Bayern nun einen Wahlkampfauftritt nach dem anderen absolviert. Dass sie dabei auf nennenswerte Proteste gestoßen wäre – außer auf das Grölen der üblichen Verdächtigen –, ist nicht überliefert, nicht mal aus Passau und Rosenheim, wo 2015 die Flüchtlingswelle am höchsten aufbrandete. Und jetzt die Krönung: Merkel und Seehofer bestreiten am Freitagabend das große Wahlkampffinale der Union gemeinsam. In München! Auch wenn’s dem CSU-Mann bei einer sich offenbar drehenden Wählerstimmung gar nicht mehr wohl war. Zuvor hatte er ein paar Journalisten eingeladen – nicht mehr alle, so nervös ist er – und beteuert: „Wie auch immer der Sonntag läuft, ich werde mit dem, was wir vor gut einem halben Jahr beschlossen haben, mit der Strategie, hochzufrieden sein.“ Das war der Zeitpunkt, als Seehofer den Kuschelkurs mit Merkel ausgerufen hat. War das Gehacke vorher also falsch? Wie auch immer. Seehofer gewinnt am Sonntag immer. Bricht die CSU ein, kann er es auf Merkel schieben. Kriegt die CSU mehr, dann ist es sein Erfolg. Wie war das? „Ich werde mit der Strategie hochzufrieden sein.“

Die Tatsache, dass Merkel nach München noch zwei Termine macht, wertet der eine oder andere Insider als Zeichen von Nervosität. Zuletzt bröckelten die Umfragewerte, und Wahlkämpfer in der Zentrale sprechen von einem „Trend gegen uns“. Es fehlt an einem ernsthaften Gegner, der das eigene Lager mobilisiert. An der CDU-Spitze weisen sie daher schon einmal vorsorglich darauf hin, dass ihre Chefin 2009 auch mit 33,8 Prozent Kanzlerin geworden ist. Das weiße Partyzelt vor der CDU-Zentrale in Berlin steht deshalb schon. Dort soll die Einlasskontrolle für die 1000 angemeldeten Journalisten stattfinden.

Schwarz-Weiß gewinnt

Sicherlich hatte auch Christian Lindner viele gute Auftritte im Wahlkampf. Nicht umsonst wurde er von Rhetorikexperten zum besten Redner der Saison erklärt. Doch vor allem die Wahlplakate der FDP haben sich eingeprägt. So schick und einprägsam, dass Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) schon brummte, dass „Schwarz-Weiß-Bilder und ein Dreitagebart noch kein Programm sind“. Wer denkt, in der freien Natur entkäme man den Plakaten, täuscht sich. Sogar mitten in einem Maisfeld in Aichtal-Grötzingen im Kreis Esslingen findet sich eins. Dort ist es der FDP-Landesvorsitzende Michael Theurer, der ein wenig versteckt, dafür aber großflächig von einem Plakat herab aus dem Acker lächelt – gerade so, als gehöre er einer Ökopartei an.

Digitaler Schlagabtausch

Das augenfälligste Erfolgsrezept der AfD hingegen heißt: Provokation im Netz. Besonders auf Facebook sind ihre Zahlen im Vergleich zu anderen Parteien beeindruckend. Die AfD hat von allem mehr: mehr Shares, mehr Likes, mehr Fans. Gegen Ende des Wahlkampfs dreht sie noch einmal auf und hat zwei Fachleute aus den USA engagiert, die Themen im Internet noch einmal zuspitzen – inklusive Grenzüberschreitungen. Die Klickzahlen in den Netzwerken garantieren noch keinen Erfolg. Untersuchungen bestätigen, dass die AfD viele geradezu hyperaktive Nutzer hat, die fast jeden Beitrag liken. Aufmerksamkeit ist nicht automatisch Zustimmung. Viele Erwähnungen rühren daher, dass viele Gegner sich an der AfD abarbeiten.

Wahlkampf nur mit Babysitter

Die Linken in Stuttgart etwa widmen sich im Schlussspurt explizit der AfD. Am Tag vor der Wahl wollen sie sich an diesem Samstag mit Gleichgesinnten gegen den „gesellschaftlichen Rechtsruck“ stemmen. Nicht irgendwo, sondern beim Mahnmal gegen den Faschismus auf dem Stauffenbergplatz. In der „offen rassistischen Hetze der AfD“ sieht die Linke nur die Spitze eines Eisbergs, der weit in die Gesellschaft hineinreiche. Kämpfen bis zuletzt hat sich die Linke vorgenommen, bis Mitternacht, selbst wenn die beiden Kandidaten für die Stuttgarter Wahlkreise beim Finale in der Landeshauptstadt nicht dabei sein können. Johanna Tiarks (35) bangt am Freitag noch um ihre Teilnahme an der Kneipentour am Samstagabend durch die Stadt, lässt die Parteizentrale wissen: „Sie kommt nur, wenn sie noch einen Babysitter findet.“ Ihr Mitkandidat Bernd Riexinger, der im Stuttgarter Norden antritt, hat das Flugticket nach Berlin schon am Freitagvormittag gelöst. Das Wochenende spielt sich für den Bundesvorsitzenden in Berlin ab.

All over Schland in 42 Stunden

Auch der Grünen-Direktkandidat Cem Özdemir hat Stuttgart am Wochenende nicht mehr auf dem Wahlkampfzettel – dafür aber vier Termine in vier Bundesländern. Nicht ganz unpassend nennen die Grünen ihren Schlussspurt Wahlmarathon. Christian  gehört zu denen, die für den Endspurt der Grünen mit am frühesten aufgestanden sind. Um 2.40 Uhr ist er in Hannover in den Zug gestiegen, um rechtzeitig zur Abfahrt des Fanbusses in Berlin zu sein. Der Student aus Niedersachsen glaubt fest daran, dass Özdemir und Katrin Göring-Eckardt bei ihrem Marathon durch alle sechzehn Bundesländer noch etwas reißen können. Deshalb steht er jetzt in aller Herrgottsfrühe vor der Parteizentrale in Berlin und wartet. Und wartet. Weil der Bus in der Nacht noch mit grünen Slogans und Fotos beklebt wurde, geht es mit Verspätung los.

„Es kommt auf jede Stimme an“, sagt er und, dass er deshalb unbedingt bei diesem „exzessiven, wirklich wahnsinnigen, verrückten Projekt dabei sein und die Spitzenkandidaten nach vorne pushen will“. Er jubelt in Leipzig für Özdemir, in Erfurt für Göring-Eckardt und im Berliner E-Werk für beide. Bis Samstagabend geht es so. Mainz ist die letzte, Hannover die allerletzte Station. Gegen Mitternacht will er wieder zu Hause sein.

Einer für alle

Julian Heinkele (27) wählt die exakt entgegengesetzte Strategie: Lokalkolorit. Der Stuttgarter Kandidat von der Satire-Front, der für Die Partei antritt, entdeckt im direkten Vergleich mit der Konkurrenz bei sich viele Vorteile – und wirbt sehr plakativ damit. „Schwuler als Kaufmann, schwäbischer als Özdemir und besser frisiert als Vogt“ sei er. Direkter kann man die Mitbewerber Stefan Kaufmann (CDU), Cem Özdemir (Grüne) und Ute Vogt (SPD) im Wahlkreis fast nicht angehen. Ob die Werbung mit den 200 Plakaten aufgeht, wird sich Sonntagabend zeigen.

Rosemarie Trost, 1937 in Stuttgart geboren, wird die Stimmen all dieser Parteien auszählen. Seit 62 Jahren, seit ihrem 18.Geburtstag 1955, hält sie dem Ehrenamt als Wahlhelferin die Treue und damit in Stuttgart den Rekord. Am Sonntag wird Ordnungsbürgermeister Martin Schairer das Wahllokal im Kolpinghaus in der Heusteigstraße 66 aufsuchen, um Rosemarie Trost mit Blumen und Wein zu ehren.

Wahlschlacht am Küchenbuffet

Andernorts gibt es schon für weniger eine Belohnung. In Berglen-Bretzenacker (Rems-Murr-Kreis) wird der Abschluss des Bundestagswahlkampfs am Samstag mit Kaffee, Tee und Kuchen gefeiert. „Das hat einst Reinhold Maier, der erste Ministerpräsident Baden-Württembergs, gepflegt“, sagt Winnendens liberales Urgestein Peter Friedrichsohn, der nun diesen Brauch für die Kandidatin Lisa Walter organisiert hat.

Apropos Appetit. Käsekuchen? Schwarzwälder Kirsch? Apfelschnitten? Die Wählerinnen und Wähler im Lenninger Albweiler Hochwang haben am Sonntag nicht nur die Wahl auf dem Stimmzettel, sondern auch am Kuchenbüfett. Das Wahllokal ist im örtlichen Kindergarten eingerichtet, und die Eltern nutzen den Andrang einmal mehr, um am Wahlsonntag Kuchen zu verkaufen. Die gute Nachricht: Es gibt mehr Kuchen als Parteien, was – wie örtliche Beobachter wissen – zusätzliches Publikum anlockt. Die noch bessere Nachricht: Der Erlös fließt in die Kindergartenkasse und finanziert unter anderem Märchenstunden. Wie passend: Vor der Wahl ist Märchenstunde für Erwachsene, nach der Wahl für Kinder.

Die ganz große Koalition

Bevor aber der Wahlkuchen alles andere verdrängt, wird in Berlin am Freitag noch einmal richtig Politik gemacht. Der Bundesrat tritt zusammen. In der Länderkammer geht, sachlich und aufregungslos wie fast immer, die Arbeit weiter. Das Gremium wählt Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) zum kommenden Bundesratspräsidenten von November an, der die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) ablöst – einstimmig; angesichts der derzeit 13 (!!) verschiedenen Regierungskoalitionen auf Landesebene sozusagen eine riesengroße Koalition. Hinweise auf den Wahlkampf bleiben in den Reden nur Beiwerk. Was die Landeschefs da umtreibt, erfährt man eher am Rande. So drückt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow eine gemeinsame Sorge aus: „Die AfD im Bundestag würde die Geschäftsordnung als Trampolin benutzen, um das Parlament zu beschädigen. Das halte ich für gefährlich.“