Gäste aus Toronto: Siphe November (l.) und Daina Zolty aus Kanada Foto: Stuttgarter Ballett

Als Fan ganz dicht dabei: Die Stuttgarter Autorin Elisabeth Kabatek begleitet die Reid-Anderson-Festwoche beim Stuttgarter Ballett mit einer Kolumne. Der Gala der John Cranko Schule präsentiert große Talente aus aller Welt. Aber was entscheidet, wer von ihnen wirklich das Zeug zum Tanz-Star hat?

Stuttgart - Nach dem emotionalen Rollercoaster des Abschieds von Sue Jin Kang ist am Samstag ein fröhlicher Abend angesagt. Der Nachwuchs darf bei der Gala der John Cranko Schule zeigen, was er kann, und es ist der erste der beiden Abende von Ballett im Park. Um sieben geht’s los. Kurz nach sechs ballen sich am Himmel graue Wolken und ein heftiger Schauer geht nieder, bei gleichzeitigem Sonnenschein. Die Wiese am Eckensee ist schon gut besetzt. Niemand lässt sich vom Regen in irgendeiner Weise beeindrucken. Das kann doch einen Stuttgarter Ballettfan nicht erschüttern! Überall sind schon Picknickdecken ausgebreitet, Babys krabbeln herum, Statisten in barocken Kostümen verteilen Programme.

Die erfahrenen BesucherInnen wissen, dass Glasflaschen aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt sind, und haben sich ihre Getränke in Plastikflaschen umgefüllt, auch die alkoholischen. Zum Beispiel die drei Damen, die bei meiner Suche nach dem leckersten Picknick die absoluten Gewinnerinnen sind. Sie haben einen Drink gemixt, der sich „Kalte Ente“ nennt und aus Prosecco, Wasser und in Weißwein marinierter Zitronenschale besteht. Außerdem haben sie eine Käseauswahl dabei, die einer französischen Käsetheke würdig wäre. „Die leckersten Sachen haben wir leider schon gefuttert“, meinen sie bedauernd. Zum Beispiel die mit Schafskäse gefüllten Auberginen.

Macht nichts, das mit Walnuss und Gorgonzola gefüllte Teilchen, das ich probieren darf, schmeckt köstlich. Zum zweiten Mal haben sich die Freundinnen zu Ballett im Park verabredet. „Letztes Jahr war es soo toll. Aber wir haben gelernt, dass man früher kommen muss, um einen besseren Platz zu ergattern.“ Da könnte ich mich jetzt niederlassen und mitfuttern, so wie Sonia Santiago, die die Moderation auf der Bühne macht, es vorgeschlagen hat. „Schmuggeln Sie sich doch einfach bei jemandem auf die Picknickdecke.“

Mit Michael Jackson und dem Hip Hop kam der Boom

Sie erinnert außerdem daran, dass Ballett im Park Jubiläum hat: 20 Jahre Intendanz Reid Anderson, 10 Jahre Ballett im Park. Mit Schwanensee hat es 2007 angefangen. Mittlerweile ist Ballett im Park aus dem Stuttgarter Sommer nicht mehr wegzudenken. Unterm Baum sitzt eine Stuttgarterin mit Besuch aus München. An ihrer entspannten Haltung mit Prosecco in der Hand erkennt man den Ballett-im-Park-Vollprofi, der Gast aus München ist zum ersten Mal da und einfach nur neugierig. „Ich war bestimmt schon sechsmal hier“, erzählt sie. „Ich habe einen Enkel, der früher sechs Jahre bei der John Cranko Schule getanzt hat. Da verfolgt man es automatisch weiter.“ Falafelburger und Rote Würste wandern an mir vorbei, und ich wandere ins Opernhaus, um Tadeusz Matazc, den Direktor der John Cranko Schule, vor der Vorstellung zu treffen.

Was ist das Geheimnis des Erfolgs der John Cranko Schule, Herr Matacz?! Die Zugehörigkeit zum Stuttgarter Ballett, die engen Verbindungen. An anderen Orten sind die Ballettschulen den Hochschulen angegliedert! Und wie läuft das mit der Talentsuche - Pablo von Sternenfels beispielsweise ist über den renommierten Wettbewerb Youth American Grand Prix (YAGP) an die John Cranko Schule gekommen und hat beim Stuttgarter Ballett eine fantastische Karriere hingelegt. Ist das der normale Weg? „Michael Jackson und der Hip Hop haben dem Tanz einen wahnsinnigen Schub verpasst. Plötzlich wollte jeder tanzen. Aber nach einer Weile hat man gesehen, dass man einen breit trainierten Nachwuchs braucht. Ohne die Wettbewerbe könnte man das gar nicht filtern. Allein in Japan gibt es 15.000 Privatschulen!“ Den interessantesten Nachwuchs sieht er im Moment übrigens in Lateinamerika, vor allem in Mexiko. „Da gehen viele Talente aus sozialen Projekten hervor.“

Wie zur Bestätigung treffe ich in der Pause zufällig Sara Collier, die im Norden Mexikos eine Ballettschule hat; einer ihrer Schüler hat es ans Hamburger Ballett geschafft. Sieht Matacz sofort, welches Potenzial in einem Tänzer steckt, ob er es ganz an die Spitze schaffen kann? Er nickt. „Ja, das sehe ich sofort, ich mache den Job schon so lange. Aber es ist ja nicht nur das Talent. Die TänzerInnen müssen erst einmal Demut lernen. Sie müssen lernen, einer von vielen zu sein. Nur wer Demut lernt, schafft es ganz nach oben.“ Demut. Wieder so ein altmodisches Wort, wie das Wort Hingabe, mit dem Harold Woetzel, der Regisseur des SWR-Films, die TänzerInnen des Stuttgarter Balletts charakterisiert hat. Demut, Hingabe, Disziplin. Tugenden, die anderswo längst aus der Mode gekommen sind, scheinen im Ballett von fundamentaler Bedeutung zu sein. Träumt denn jede/r davon, einmal ganz vorn zu stehen? Ja, sagt er, niemand gibt sich freiwillig mit der zweiten Reihe zufrieden, und das ist ja eigentlich ganz normal. Wenn es dann nicht so klappt, ist die Realität oft hart.

„Der Neubau der John Cranko Schule in Stuttgart wird epochal“

Natürlich müssen wir auch noch kurz über den Neubau der John Cranko Schule sprechen. „Chapeau, Reid“, sagt Matacz. Jahrelang hat dieser für den Neubau gekämpft und die schlechten Bedingungen in der alten Schule angeprangert, die einer Talentschmiede mit Weltruf einfach nicht angemessen sind. Im Moment tut sich ihr Direktor ein wenig schwer damit, sich das fertige, große Ganze vorzustellen. Er fühlt sich mehr als eine Mischung aus Architekt, Bauingenieur und Handwerker, weil er über Steckdosen, ISDN-Anschlüsse und Raumtemperaturen entscheiden muss. „Es gibt kein Handbuch für Ballettschulen“, meint er. „Das ist die einzige Ballettschule, die in Deutschland neu gebaut wird, wahrscheinlich für die nächsten fünfzig Jahre. Das ist ein epochales Ereignis.“

Nun aber genug der Theorie, ab in die Vorstellung! Die beginnt mit einer Uraufführung. Ein Projekt von unglaublichem Charme: die John Cranko Schule tanzt die Vier Jahreszeiten von Vivaldi. Jede Jahreszeit wurde von einem ehemaligen Schüler bzw. einer Schülerin der John Cranko Schule choreografiert: Katarzyna Kozielska, Louis Stiens, Fabio Adorisio und Demis Volpi. Besonders schön sind dabei die fließenden Übergänge zwischen den Jahreszeiten, so dass trotz der unterschiedlichen ChoreografInnen ein einziges Stück entsteht, mit wunderschönen Kostümen des ehemaligen Tänzers Thomas Lempertz (der, raten Sie mal, auf welcher Schule war?). Und was für eine unglaubliche tänzerische Qualität diese zum Teil sehr, sehr jungen TänzerInnen da auf die Bühne bringen! Herausragend sind vor allem Eun-Sil Kim und Nikita Korneev, die den Winter tanzen. Sie verharren beide noch im eisgrauen Kostüm in ihrer Schlusspose, da läuft ein Mädchen im „Frühling“-Kostüm auf die Bühne, mit einer roten Blume in der Hand - der Kreislauf der Jahreszeiten beginnt von neuem. Ein wunderschönes Schlussbild!

Im zweiten Teil zeigen die Gastschulen aus Paris, London, Toronto und Hamburg, was sie können. Am meisten Applaus bekommen Daina Zolty und Siphe November aus Kanada für „I loves you Porgy“ und Olivia Betteridge und Borja Bermúdez de Castro aus Hamburg für „Molly! Do you love me?“ Das hat so viel Humor, dass ein Kind im Publikum vor dem Schlussapplaus unüberhörbar herauslacht. Die John Cranko Schule darf den Abschluss machen, mit Etüden von Tadeusz und Barbara Matacz. Die Bühne wird zum Wettbewerb der Tänzer, „wer springt am weitesten/höchsten“, und schließlich zum Wimmelbild unzähliger SchülerInnen in sehr unterschiedlichen Körpergrößen. Die legen alle noch einmal ein atemberaubendes Tempo vor. Dann ein bezauberndes Schlussbild, rauschender Applaus für alle Schulen und ihre PädagogInnen. Ein Ballettabend, der unglaublich viel Spaß gemacht hat. Nein, um den Nachwuchs und die Zukunft des Balletts muss man sich nicht nur in Stuttgart wirklich keine Sorgen machen. Draußen hat’s geregnet, aber anscheinend ist fast keiner gegangen.

Elisabeth Kabateks Blog beim Stuttgarter Ballett:

https://stuttgarterballett.wordpress.com/2016/07/24/kabatek-bloggt-wer-ganz-nach-oben-will-muss-demut-lernen/