Christine Wichert (links) und Mirjam Hübner wollen Wahlverwandtschaften zwischen Menschen vermitteln. Foto: Rebecca Anna Fritzsche

Der Verein Wahlverwandtschaften will Menschen ohne Angehörige miteinander in Kontakt bringen, damit familiäre Bindungen entstehen können.

S-Mitte - Man kann bei der Wahl seiner Eltern nicht vorsichtig genug sein: Diesen Satz sagen Eltern ihren rebellierenden Teenagerkindern gerne. Der Witz an der Sache ist natürlich, dass man diese Wahl eben nicht treffen kann – die Familie ist die Familie, egal wie zufrieden man mit ihr ist.

Was aber, wenn man sich die Familie tatsächlich aussuchen könnte? Dies ermöglichen möchte der Verein Wahlverwandtschaften, der am vergangenen Samstag mit einer Kennenlernveranstaltung auch in Stuttgart seine Arbeit begonnen hat. „Wir wollen interessierten Erwachsenen helfen, andere Menschen zum Aufbau einer persönlichen Beziehung zu finden, insbesondere auch generationenübergreifend“, sagt Vereinsgründerin Christine Wichert. Sie hat den Verein 2009 ins Leben gerufen, aus einer persönlichen Erfahrung heraus: „Meine leiblichen Familienmitglieder sind leider alle verstorben. Dann habe ich zufällig zwei ältere Damen auf einer Reise kennengelernt.“ Daraus habe sich eine Mutter-Tochter-Beziehung entwickelt: „Das hat mir viel Glück und Geborgenheit gegeben. Und das wollte ich dann auch anderen Menschen ermöglichen.“

Rund 700 Mitglieder suchen online Wahlverwandte

Zunächst ist damals die Internetplattform entstanden, auf der aktuell rund 700 Mitglieder registriert sind, die einen Wahlverwandten suchen. „Aber viele Menschen wollen sich erst mal von Angesicht zu Angesicht kennenlernen, darum habe ich lokale Gruppen in Mönchengladbach und Krefeld gegründet, die vor Ort von Ehrenamtlichen betreut werden.“ Die neue Stuttgart-Gruppe ist die erste in Baden-Württemberg. Betreut wird sie von Mirjam Hübner. „Meine Eltern und Schwiegereltern sind bereits älter und gesundheitlich angeschlagen, und nach der Geburt meiner Tochter habe ich mich für neue Familienstrukturen interessiert“, erzählt sie: So ist Hübner auf den Verein gestoßen und engagiert sich seither ehrenamtlich.

Die Gründe, warum Menschen nach Wahlverwandtschaften suchen, sind vielfältig: „Manche haben keine Familie mehr oder leben sehr weit entfernt. Oder sie sind mit den Verwandten zerstritten“, beschreibt Christine Wichert. „Es ist auch oft so, dass die Leute neu in eine Stadt gezogen sind und Anschluss suchen“, ergänzt Mirjam Hübner. Beide betonen: „Alleinsein und Einsamkeit sind stigmatisierte Themen. Niemand spricht gerne darüber.“ Besonders, wenn der Kontakt zur Blutsverwandtschaft nicht gut sei, fiele es vielen Menschen schwer, „das Bedürfnis nach familiärer Nähe zu artikulieren“, erklärt Wichert. Darum sei es so wichtig, den Teilnehmern ein ungezwungenes Kennenlernen zu ermöglichen. „Manche haben genaue Vorstellungen, wen sie suchen, beispielsweise eine Schwester oder eine Mutter“, so Mirjam Hübner. „Manche sind auch ganz offen. Wenn man Nähe sucht, muss die nicht auf eine Rolle fixiert sein.“

Wenn sich zwei „gefunden“ haben, treffen sie sich unabhängig vom Verein. „Wir bieten aber auch weitere Gruppentreffen an, zu dem alle kommen können, die Lust haben“, erklärt Mirjam Hübner. Auch Programmpunkte wie gemeinsame Ausflüge sollen etabliert werden.

Zum ersten Stuttgart-Treffen sind rund zehn Leute gekommen, von der jungen Studentin bis zum Pensionär. „Alle haben sich gleich gut verstanden, es sind gleich tiefgehende Gespräche entstanden“, resümiert Hübner. Es hat sogar so gut gepasst, dass die Teilnehmer gleich einen monatlichen Stammtisch organisiert haben, der allen offensteht. „Wir sehen uns als Katalysator und freuen uns über jeden entstandenen Kontakt“, sagt Vereinsgründerin Christine Wichert. Und Mirjam Hübner verrät: „Ich suche zwar nicht direkt, weil ich in erster Linie die Stuttgart-Gruppe betreue – aber eine ‚große Schwester‘ fände ich schön.“