Hier guckt der Lehrer immer zu: Schausteller-Kinder lernen in der Wasenschule. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Diesen alten Griechen kennen alle. Auch wenn nicht mehr jeder genau weiß, was der Satz des Pythagoras eigentlich bedeutet. Die Kinder der Wasenschule brauchen ihn, wer ihn beherrscht, kann ein Karussell aufbauen.

Stuttgart - s sieht so einfach aus. Das Karussell dreht sich. Immer schön gleichmäßig im Kreis. Doch das Aufbauen ist ein Heidengeschäft; eines, das man mit Sinn und Verstand angehen muss. Der Teenager Timmy Jost weiß das, betreibt doch sein Vater Markus ein Kinderkarussell. Als er nun in der Wasenschule das Berechnen von Flächen lernen sollte, fragte er, ob man dies nicht anhand eines Karussells tun könne. Bereichslehrer Michael Widmann und seine Kollegen konnten. Also grüßt von der Tafel ein Karussell, der Satz des Pythagoras steht daneben und die Formeln zum Berechnen von Kreisfläche, Kreisausschnitt und Seillängen. Und die Frage: Wie verteile ich sechs Pferde gleichmäßig auf der Grundfläche?

Die Schulbürgermeisterin brachte Äpel mit

Es ist alles ein bisschen anders in der Wasenschule. Verborgen ist sie für Unwissende. Versteckt in einer langen Betonwand am Rande des Wasens. Draußen nimmt der Rummel Fahrt auf. Hier drinnen sitzen 30 Kinder an Tischen, stecken die Köpfe in Bücher und schauen auf Laptops. Mittendrin ist Michael Widmann. Er ist Bereichslehrer für Kinder und Jugendliche von beruflich Reisenden. So heißt das offiziell. Gemeint sind die Kinder von Schaustellern, Artisten und Zirkusleuten. Oder fahrendes Volk, wie man sich selbstironisch nennt.

Am Dienstag bekamen sie Besuch. Stuttgarts Schulbürgermeisterin Isabel Fezer schaute vorbei. Und brachte Turnbeutel und Äpfel mit. Sowie viele warme Worte für Kinder und Lehrer dieser besonderen Schule. Seit dem jüngsten Volksfest gibt es sie. Nun findet sie erstmals auch während des Frühlingsfests statt, fünf Wochen lang. Denn viele Schausteller sind auch während des Aufbauens und Abbauens in Bad Cannstatt.

Lange Jahre hatten die Schausteller für die Wasenschule gekämpft. Viele schicken ihr Kind ins Internat. Doch das ist teuer. Nicht jeder kann sich das leisten. Und nicht jeder will seine Kinder nur in den Ferien sehen. Also reist der Nachwuchs mit, von Festplatz zu Festplatz. Und geht auf die Schulen am Ort. Die Kinder vom Wasen wurden bisher in fünf Cannstatter Schulen unterrichtet. Nun sind sie alle zusammen in der Wasenschule, offiziell eine Außenstelle der Eichendorffschule. Gemeinsam mit den Schaustellerpfarrern hatte sich Widmann für diese im Land einmalige Lösung eingesetzt. Die Feuerwehr überließ der Schule einen Raum, und „das Wohlwollen des Kultusministeriums“ war hilfreich. Ebenso hilfreich war die praktische Begabung der Schausteller, sie bauten den Raum aus, verlegten PVC, installierten Schränke.

Michael Widmann war früher Lehrer beim Circus Krone

Früher war es wichtig, dass die Kinder Saltos schlagen, Karussells reparieren oder Laster fahren konnten. Gedichte rezitieren und Logarithmen rechnen, das brauchte man nicht. Das hat sich geändert. Es gibt zu viele Schausteller – nicht jeder wird das Geschäft seiner Eltern übernehmen und davon leben können. Und wenn, wird er mit Hemdsärmeligkeit nicht weiterkommen. Zu leicht verheddert man sich sonst zwischen all den Verordnungen und Vorgaben von Finanzamt, Tüv, Gewerbeamt oder Lebensmittelkontrolleuren.

Widmann reiste einst vier Jahre lang als Pädagoge mit dem Circus Krone, unterrichtete zwölf Kinder in einem Schulwagen. Doch hier ist er kein Einzelkämpfer. So kommen auch andere Bereichslehrer aus Baden-Württemberg nach Stuttgart, um die 30 Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren zu unterrichten. Die einen übernachten in der Jugendherberge, die anderen stehen mitten in der Nacht auf, um pünktlich um 8 Uhr in Bad Cannstatt zu sein. Auch Studenten der pädagogischen Hochschule helfen mit, pensionierte Lehrer und ehrenamtliche Bildungspaten, etwa ein Banker oder ein IBM-Manager. Für Gotteslohn und ein Mittagessen bei den Schaustellern auf dem Platz.

In Pforzheim und Mannheim sollen ähnliche Schulen entstehen

Mit „diesem Schatz an Wissen“, so Widmann, kann man wuchern. Stets sind acht bis zehn Lehrer da, so dass fast jedes Kind einen persönlichen Betreuer hat. Das hört sich nach Luxus an, ist aber notwendig, denn jedes Kind bekommt von seiner Heimatschule die Lehrpläne mit und die Aufgaben, die es zu erfüllen hat. Man lernt so fix, „aber das ist auch anstrengend für euch Kinder“, sagte Fezer, „und eine Herausforderung, denn man kann sich nie ausklinken“.

Deshalb trennt man jüngere und ältere Schüler, in zwei Schichten haben sie je zwei Stunden Unterricht. Widmann: „Das ist sehr intensiv, die zwei Stunden reichen.“ So positiv sind die Ergebnisse, dass Widmann eine solche Schule auf anderen Festplätzen einrichten möchte, etwa in Mannheim oder Pforzheim. Die Kinder würden es ihm danken, sie kommen gerne. So gerne, dass ihre Eltern staunen. Die werden nämlich mittlerweile von den Kindern geweckt: Aufstehen, es geht in die Schule! Pythagoras wartet.