Landesrabbiner a.D. Joel Berger: Im Ruhestand, um zu arbeiten Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Joel Berger, Landesrabbiner a. D., wird für sein Lebenswerk mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im Interview drückt er seine Hoffnung aus, dass seine jüngsten Forschungsergebnisse zur jüdischen Volkskultur im Südwesten als Buch erscheinen können.

Herr Berger, herzlichen Glückwunsch zu dieser Auszeichnung. Sie wurden bereits mit der Verdienstmedaille des Landes und dem Ehrendoktor-Titel gewürdigt. Fehlt noch was?
Nein, nein. Ich wünsche mir nur Gesundheit und Ruhe. Aber was die Ehrungen betrifft: Den Ehrendoktor der Universität Tübingen, wo ich am Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaften einen Lehrauftrag zum Thema Judentum hatte, habe ich aus einem bestimmten Grund gern angenommen. Ich wollte mein Studium am Rabbinerseminar in Budapest und an der Universität Debreczin mit der Promotion abschließen und stand bereits vor dem Rigorosum. Dann wurde meine Dissertation über die Chasaren (ein Turkvolk, das sich auch auf dem magyarischen Territorium angesiedelt und dessen Oberschicht im 9. Jahrhundert die jüdische Religion angenommen hatte) abgelehnt: Sie sei politisch in der „Volksdemokratie“ nicht korrekt. Durch den Ehrendoktor der Uni Tübingen fühlte ich mich rehabilitiert.
Gewürdigt werden Ihre Verdienste um die Integration der russischen Kontingentflüchtlinge und die religiöse Bildung der Kinder. Was zählt für Sie am meisten?
Ein gläubiger Mensch wie ich sieht das Glück und die Gnade, überlebt zu haben, bereits als Verdienst an. Besonders wichtig war mir der Religionsunterricht für die Kinder der neuen Mitglieder aus den GUS-Staaten, die in der damaligen Sowjetunion keinen Zugang dazu hatten und oft nichts über das Judentum wussten. Fünf Lehrer fuhren von Ulm bis Heilbronn, um 232 Kinder zu unterrichten. Oft gegen den Widerstand der religionsfern aufgewachsenen Eltern. Ich habe bis heute Kontakt zu Schülern von mir in ganz Europa und sogar in den USA.
Durch den Zuzug aus Russland ist die jüdische Gemeinde auf mehr als 3000 Mitglieder angewachsen. Ist die Integration gelungen?
Ich glaube schon. Die älteren Mitglieder, obwohl fast alle aus akademischen Berufen, haben zwar kaum mehr die deutsche Sprache gelernt. Aber sie nehmen regelmäßig an Kursen und Diskussionen teil, bei denen immer ein Übersetzer zur Verfügung steht. Voll gelungen ist die Integration bereits bei der zweiten und dritten Generation. Diese Menschen sind bildungshungrig, ehrgeizig und auch dankbar, dass ihnen hier alle Studienmöglichkeiten offen stehen. Sie sind Akademiker, Künstler oder Schriftsteller wie die erfolgreiche Autorin Lena Gorelik.
Sie kuratieren mit Ihrer Frau Noémi die Jüdischen Kulturwochen. Ist das Anliegen gelungen, damit die Begegnung von jüdischen und nichtjüdischen Menschen zu fördern und die Gemeinde zu öffnen?
Unbedingt. Die Öffnung der Gemeinde, die meine Frau Noémi schon als Vorsitzende der weltweiten zionistische Frauenorganisation Wizo vor allem durch den jährlichen Basar begonnen und verwirklicht hat, ist damit weiter erfolgreich vorangekommen. Die jüdische Gemeinde ist heute ganz selbstverständlich ein Teil der Gesellschaft dieser Stadt.
Sie beide lassen sich nur noch selten in der Gemeinde sehen und sind dafür umso mehr in Bad Kissingen. Was ist dort Ihre Aufgabe?
Ich halte mich ganz bewusst weitgehend von der Gemeinde fern, das ist die Aufgabe meines Nachfolgers. In Bad Kissingen bin ich im Auftrag der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland als Rabbiner eine der Integrationsautoritäten. Die Zentralwohlfahrtsstelle hat dort ein altes Hotel gekauft. Dorthin kommen aus allen Gemeinden in Deutschland zugewanderte russische Juden, die in Kursen, Seminaren und Gottesdiensten mit allen Bereichen des jüdischen Lebens, der Tradition, Kultur, den Bräuchen, Ritualen und Wertvorstellungen vertraut gemacht werden. Im Vertrauen: Keine einfache, aber dennoch begeisternde Aufgabe.
Sie sind jetzt 78 und seit 13 Jahren als Landesrabbiner in Pension. Aber von Ruhestand kann bei Ihren vielen Aktivitäten keine Rede sein. Was treibt Sie an?
Ich halte es mit meinem ehemaligen Lehrer am Rabbinerseminar in Budapest, dem Philosophieprofessor Dr. Samuel Szemere, der gesagt hat: Jetzt gehe ich in Rente und fange an zu arbeiten. So mache ich es auch, denn es gibt so viele Fragen und Probleme, die ich bedenken und vielleicht auch beantworten will. Zum Beispiel bei den Synagogenführungen, die ich bis heute mache. Oder bei meinen wöchentlichen Rundfunksendungen bei Radio Bremen, im MDR Figaro, im Bayerischen Rundfunk und im SWR mit Gedanken, Informationen und Anstößen zum Thema jüdische Religion und Judentum.
Publikationen und Beiträge von Ihnen füllen eine lange Liste. Ihre Biografie „Der Mann mit dem Hut“, die von Heidi-Barbara Kloos aufgezeichnet wurde, war offenbar ein Bestseller?
Ja, das Interesse der Leser ist so groß, dass der Verlag Klöpfer & Meyer das Buch jetzt noch mal als Paperback aufgelegt hat. Das freut mich natürlich sehr.
Seit 2002 arbeiten Sie an einem Forschungsauftrag zur jüdischen Volkskultur im Südwesten im Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Kann man die Erkenntnisse lesen?
Das Buch ist praktisch fertig. Dargestellt wird darin jüdische Volkskultur, also Berufe, Tradition und Kultur der jüdischen Gemeinden im Südwesten. Dabei haben wir die Erkenntnis gewonnen, wie tief jüdisches Wissen in den kleinen Landgemeinden wie Laupheim, Buchau oder Baisingen verankert war und wie weit dort die Juden ihren Lebensstil und ihre Kultur gepflegt und weitergegeben haben. Sie hatten Kontakte und Verbindungen in alle Welt. Ein Beispiel dafür ist der Schriftsteller Berthold Auerbach (1812–1882), ein schwäbischer Jude, der aus Nordstetten im Schwarzwald stammte und sich durch eine ungeheuere Weltoffenheit ausgezeichnet hat. Für unser Buch suchen wir jetzt einen Verlag.
Ihr Leben stand bis zur Emigration 1968 aus Ungarn nach Deutschland unter den denkbar schlechtesten Vorzeichen: Sie und Ihre Eltern haben nur mit Glück die Shoah überlebt, Sie waren unter den Kommunisten im Gefängnis. Wie blicken Sie heute zurück?
Die ersten 30 Jahre meines Lebens waren ein Horror. Ungarn ist nicht erst heute so nationalistisch, es hat schon 1938 mit einer antijüdischen Gesetzgebung ohne den Druck aus Deutschland den Weg für den Holocaust bereitet und jeden Tag dafür gesorgt, dass wir in Angst und Schrecken gelebt haben.
Konnten Sie Ihre Lebensziele verwirklichen?
Ich habe vielleicht nicht alles verwirklicht, was ich mir einmal erträumt habe. Zum Beispiel eine konsequentere Laufbahn als Wissenschaftler oder Schriftsteller. Aber ich kann für das große Glück in meinem Leben nur dankbar sein. Ich habe zwei Diktaturen überlebt und konnte mir nie vorstellen, dass ich einmal Jerusalem sehen oder als freier Bürger in einem demokratischen freien Land leben kann. Es ist fast eine unverdiente Gnade. Und wir haben zwei Kinder und sechs Enkel, das ist das wahre Glück. Im Talmud heißt es, wenn ein Großvater seine Enkel hebräisch über die Tora sprechen hört, ist das wie ein Hauch vom Paradies.