Geschlagen, gedemütigt, getötet: Blumen und Kränze liegen neben einem Gedenkstein in Berlin für die am 7. Februar 2005 ermordete Türkin Hatun Sürücü, die von drei ihrer Brüder mit drei Kopfschüssen getötet wurde Foto: dpa

Drohungen, Gewalt und Zwangsheirat gehören zum Leben vieler junger muslimischer Migrantinnen.

Stuttgart - Evin (Name geändert) ist durch die Hölle gegangen. Seit ihrer Kindheit wurde sie von ihren Eltern ausgenutzt, erniedrigt, geschlagen. Ihr einziges Vergehen: Sie wurde als Frau geboren. Die 22-jährige zierliche Kurdin, die in der Osttürkei aufwuchs, kam als Siebenjährige nach Deutschland. Familiäre Gewalt war für sie alltäglich. „Mein Vater und meine Mutter schlugen mich mit allem, was sie gerade in die Hand bekamen. Bei Kurden ist es normal, verprügelt zu werden, damit man den Eltern gehorcht.“

Evin gehorchte. Aus Angst machte sie alles, was ihr aufgetragen wurde. Sie passte auf ihre Geschwister auf, versorgte den Haushalt, las ihren Eltern jeden Wunsch von den Lippen ab. Es half nichts. „Je älter ich wurde, desto schlimmer wurde es.“ Sie wisse, was passiert, wenn sie die Familienehre beflecke, wurde ihr eingetrichtert. Von Geburt an sei es ihre Bestimmung gewesen, mit ihrem Cousin zwangsverheiratet zu werden.

Der Begriff der Ehre spielt vor allem in islamischen Kulturkreisen eine zentrale Rolle. Nach Aussage der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes hängt die Familienehre in stark patriarchalisch geprägten Gesellschaften vom richtigen Verhalten der weiblichen Clan-Mitglieder ab. Frauen werden als Besitz des Mannes gesehen. Verstößt die Tochter gegen die herrschenden Normen, ist die ganze Ehre der Familie und damit ihr öffentliches Ansehen beschädigt.

Zora erlebte ihre Kindheit als Gefängnis

Auch Zora (Name geändert) litt unter der ständigen Kontrolle und Willkür zu Hause. Die 26-Jährige gehört zur Volksgruppe der Jesiden, einer kurdischen Religionsgemeinschaft, die über den ganzen Nahen und Mittleren Osten verstreut lebt. Anfang der 1980er Jahre kam sie mit ihrer Familie aus Pakistan nach Deutschland. Man kann nur als Jeside geboren werden. Grundsätzlich bedeutet die Heirat eines Jesiden mit einem Andersgläubigen den Austritt aus der Religionsgemeinschaft und einen Verrat an der Familienehre.

„Es war für mich normal, ständig eingesperrt zu sein und nichts zu dürfen“, erzählt Zora. Die Floristin lebt heute mit ihrem deutschen Ehemann in der Nähe von Bremen – weit weg von den erschütternden Grausamkeiten ihres Elternhauses. Doch die Peinigungen hat sie auch sechs Jahre nach ihrer Flucht nicht vergessen. „Ich habe lange überlegt, ob ich überhaupt zum Interview komme. Ich hatte Angst, dass es ein Trick von meinem Vater sein könnte, um mich zurückzuholen.“

Zora erlebte ihre Kindheit als Gefängnis. Sie durfte keine deutschen Freundinnen, geschweige Jungen treffen, nicht ohne Aufsicht rausgehen. Die Schule war der einzige Ort, wo sie begrenzt Freiraum hatte und sich Lehrern anvertrauen konnte. „Für meine Eltern war ich eine billige Arbeitskraft.“ Mit zwölf eskalierte die Gewalt. „Eines Tages kam mein Vater mit einem Spatenstiel nach Hause. Während meine Mutter am Küchentisch saß, brach er mir die Hand.“

Die Adresse von Rosa ist streng geheim

Wie vielen Migrantinnen wurde auch Zora angedroht, zwangsverheiratet zu werden. Onkeln und Tanten redeten auf die junge Frau ein, dass sie Schlimmes zu erwarten hätte, wenn sie sich nicht dem Familienwillen unterwerfe. „Meine Mutter erzählte mir, wie es Frauen ergeht, die die Familienehre verletzen. Immer wieder haben mir meine Eltern mit Verstümmelung und Mord gedroht. Eines Abends kam ein Onkel zu mir ins Zimmer und hielt mir eine Pistole an den Kopf.“

Als sie 20 Jahre alt war, stellte Zora ihren Cousin und Ehemann in spe zur Rede. Dieser erklärte ihr, dass er seine Freundin behalten und sie gleichzeitig als Ehefrau haben wolle. „Nach dem Gespräch war mir klar: Ich muss da raus.“ Zora rief ein Frauenhaus an, das ihr den Kontakt zu Rosa vermittelte, einer anonymen Jugendhilfeeinrichtung der Evangelischen Gesellschaft (Eva) in Stuttgart. Frauen, die Gewalt im Namen der Ehre erfahren, finden hier bundesweit Aufnahme. Ein weiteres Angebot von Eva ist die mobile Beratungsstelle Yasemin. Auch diese Einrich-tung, die in Baden-Württemberg weit tätig ist, wendet sich an junge Migrantinnen, die zu Hause in Konfliktsituationen leben und von Zwangsheirat und Ehrenmord bedroht sind.

Wer vor seinen gewalttätigen Angehörigen Schutz sucht, wird im Rosa-Wohnprojekt untergebracht. Frauen zwischen 16 und 21 Jahren werden in drei Wohnphasen von Sozialarbeiterinnen betreut, bis sie ihre Selbstständigkeit erlernt haben. Die Adresse von Rosa ist streng geheim. Nur so können die derzeit zwölf Bewohnerinnen ohne Angst vor den Nachstellungen ihrer Familien leben.

Die meisten brechen mit ihrer Vergangenheit

Aisha Kartal (Name geändert), die Leiterin von Rosa und Yasemin, berichtet, wie die Mädchen in drei Etappen auf ihr neues Leben in Freiheit und Eigenverantwortung vorbereitet werden. „Zuerst trainieren sie Verhaltensweisen an, um anonym zu bleiben und keine Spuren zu legen.“ Danach erproben sie Schritt für Schritt die Selbstständigkeit, bis sie schließlich mit anderen in einer selbst angemieteten Wohnung zusammenleben.

Bisher sind 143 Mädchen betreut worden, die meist ein bis drei Jahre bei Rosa bleiben. Ihr größter Wunsch sei es, von den Eltern akzeptiert zu werden, sagt die 44-jährige Sozialarbeiterin. Jedoch kehre kaum eine von ihnen nach Hause zurück. Die meisten würden mit ihrer Vergangenheit brechen. Kartal: „Wie mutig muss ein junger Mensch sein, der einen solchen radikalen Schritt geht.“

Frauen wie Evin und Zora sind indes die Ausnahme. Nur wenige können sich aus ihrem gewalttätigen Umfeld befreien. Die meisten fügen sich in das verordnete Leben, weil sie für sich keinen anderen Ausweg sehen. Laut Kartal gleicht die Erziehung zu Hause einer Gehirnwäsche. „Das ganze Leben der Mädchen dreht sich um die Familienehre. Sie haben das so verinnerlicht, dass sie bis heute große Schuldgefühle plagen.“

Jährlich mindestens 5000 sogenannter Ehrenmorde

Diesem Denken zufolge hat der Familienclan das Recht, sich zur Verteidigung der Ehre jederzeit in das Leben der Frauen einzumischen. Die Ehre wird auf diese Weise zum Instrument totaler Kontrolle, Denunziation und Machtausübung durch die Männer. Mitunter reicht schon ein Gerücht, eine modische Frisur oder ein Widerwort, um die Familienehre zu verletzen. Vätern, Brüdern und Onkeln obliegt die Aufgabe, sie zu bewahren. Gelingt das nicht, können sie die Familienehre nur durch die Ermordung der Tochter und Schwester wiederherstellen.

Selbst hohe Haftstrafen halten die potenziellen Täter nicht von ihrem Verbrechen ab, wie etwa der Fall Mehmet Ö. zeigt. Im März 2010 verurteilte das Landgericht Schweinfurt den türkischen Dönerbudenbesitzer zu lebenslanger Haft. Mehmet Ö. hatte seine Tochter Büsra (15) mit 68 Messerstichen getötet. „Strafen schrecken niemanden ab“, ist Zora überzeugt. „Die Eltern sind stolz auf ihre Kinder, wenn sie die Familienehre wiederherstellen – sogar durch Mord.“

Die 18-jährige Kurdin Arzu Özmen aus Detmold musste sterben, weil sie einen Deutschen liebte. Anfang November 2011 wurde sie von ihren Geschwistern getötet. Der Prozess gegen vier Brüder und eine Schwester soll Ende April vor dem Detmolder Landgericht beginnen. Einer Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg zufolge wurden zwischen 1996 und 2005 in Deutschland insgesamt 109 „Ehrenmorde“ verübt. Nach einem Bericht der Vereinten Nationen werden jedes Jahr mindestens 5000 Mädchen und Frauen weltweit getötet. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

Das Vertrauen in ihre Familie hat sie verloren

In manchen Fällen werden „Ehrenmorde“ als Suizid oder Unfall getarnt. Frauen werden in ihre Heimatländer verschleppt, dort zwangsverheiratet oder getötet. Auch Männer können zu Opfern werden,wenn sie sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, Ehebrecher sind, eine Zwangsheirat oder einen sogenannten Ehrenmord verweigern.

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Ute Koczy sieht dringenden Handlungsbedarf. Die Ermordung von Arzu Özmen zeige, wie schwierig es für den Rechtsstaat sei, Verbrechen im Namen einer falsch verstandenen Ehre zu verhindern. „Ein solches Ehrverständnis, das Frauen lieber tot sieht als unabhängig, ist menschenverachtend.“

Auch in Evins Familie stand der Ehrbegriff ganz im Mittelpunkt. Dass die Gewalt nichts mit Ehre, aber viel mit Unterdrückung zu tun hat, wurde ihr erst langsam klar. Kurz vor ihrem 19. Geburtstag nahm sie allen Mut zusammen und floh. Über eine Beratungsstelle erfuhr sie von Rosa. Seit zwei Jahren lebt Evin nun in einer Wohngruppe. Sie hat die neunte Klasse absolviert und will nach dem Berufseinführungsjahr Verkäuferin werden.

Äußerlich ruhig berichtet die Kurdin, wie sie lange Zeit Angst davor hatte, dass ihr Vater und ihre Brüder sie finden und umbringen könnten. Das Vertrauen in ihre Familie hat sie verloren. „In guten Zeiten sind alle für dich da, in schlechten Zeiten sind alle gegen dich.“