Eine Erzieherin spielt in Ellwangen mit Heimkindern zwischen den Bungalows des Kinder- und Jugenddorf Marienpflege. Foto: dpa

In der Debatte um ehemalige Heimkinder wird die Kirche von der Vergangenheit eingeholt.

Ellwangen - Immer mehr ehemalige Heimkinder suchen die Öffentlichkeit und klagen darüber, welch katastrophale Zustände es in vielen Kinderheimen in den 50er und 60er Jahren gab. Nun geht die Kirche in die Offensive und will zeigen, dass sie aus den Fehlern gelernt hat.

Es ist Mittagszeit, und in Haus 11 ist der Tisch schon fürs Essen gedeckt. Es gibt serbisches Reisfleisch mit grünem Salat und zum Nachtisch Schokopudding. "Wir geben den Kindern hier ein Stück Heimat. Viele kannten das bisher gar nicht", erzählt Christa Haas. Die Frau ist seit 30 Jahren bei der Marienpflege in Ellwangen, einem Kinder- und Jugenddorf der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Derzeit hat Christa Haas zehn Kinder. Keine eigenen, alles fremde. Und doch ist die Chefin von Haus 11 für die Kinder zwischen sechs und 18 Jahren wie eine zweite Mutter. "Ich versuche, ihnen Werte zu vermitteln, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken und sie daran zu gewöhnen, Verantwortung zu übernehmen." Vom Morgen, wenn der Frühstückstisch abgeräumt wird, über den Mittag, wenn es nach der Schule zum Fußballspielen oder in die Tanzschule geht, bis zum Abend, wenn sie die Älteren davon überzeugen muss, dass der Fernseher einen Ausknopf hat. "Es ist wichtig, dass man den Kindern erklärt, warum man etwas tut, und sie diese Entscheidungen auch verstehen." Nur so, betont Haas, sei Vertrauen aufzubauen.

Ralf Klein-Jung, Vorstand der Marienpflege Ellwangen, nickt: "Es ist unsere Aufgabe, den jungen Menschen klarzumachen, dass sie wichtig sind und einen Wert haben." Das war nicht immer so. Von den 50er bis zum Anfang der 70er Jahre glichen viele Kinderheime in Baden-Württemberg eher einer Aufbewahrungsanstalt als einem Hort der Geborgenheit. Schläge und Erniedrigungen gehörten in vielen Einrichtungen dazu wie das tägliche Gebet. Erst jetzt kommt das ganze Grauen ans Tageslicht. Die interne Untersuchung der Diözese mit dem Titel "Die Zeit heilt keine Wunden" scheint für viele Opfer wie ein Ventil zu wirken. "Es gab damals katastrophale Zustände", bestätigt Klein-Jung. Auch in Ellwangen. Die Erzieher hätten zwar "hohe pädagogische Ansprüche ans Menschenbild" gehabt, aber die Wirklichkeit sah oft anders aus. Seit Monaten kommen ehemalige Heimkinder zu ihm, erzählen "erschütternde Erlebnisse" wie sie damals geschlagen wurden, wenn sie nicht dem Prinzip von Zucht und Ordnung gehorchen wollten. "Bei mir stehen Heimkinder von damals in der Tür und wollen einfach nur reden", so der Marienpflege-Chef. Manche möchten die Akten von damals einsehen. Wieder andere wollen wissen, wieso sie überhaupt ins Heim gekommen sind. Neulich habe ihn ein älterer Mann besucht und erst im Gespräch erfahren, dass er noch leibliche Geschwister hat. Es sind Dramen, die sich da abspielen.

Transparenz als Lösung

So etwas sei heute undenkbar, beteuert Klein-Jung, man setze auf Transparenz in der Zusammenarbeit mit den Jugendämtern und den Eltern. Die Probleme sind jetzt anderer Art. "Wer zu uns kommt, bei dem haben meist sämtliche anderen Hilfen nicht gegriffen", sagt er ohne Umschweife. Kinder aus zerrütteten Ehen, aus Beziehungen, in denen Drogen, Alkohol und Gewalt den Alltag prägen, wo die Kinder nur mit Hilfe der Polizei geholt werden können, der Gang zum Psychiater genauso normal ist wie der wiederholte Schulverweis. Gut 220 Lehrer und pädagogische Fachkräfte wie Christa Haas kümmern sich in Ellwangen um rund 450 Kinder, Jugendliche und Familien.

Das hört sich nach paradiesischen Betreuungszuständen an, ist es aber nicht. Klein-Jung berichtet, die Jugendämter würden den Kostendruck - der Tagessatz in der Wohngruppe liegt bei 140 Euro pro Person - zunehmend erhöhen. Wo früher viele Kinder vom Grundschulalter bis zur Volljährigkeit im Heim ein neues Leben kennenlernten, liegt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer jetzt bei 3,2 Jahren. Ein bedenklicher Trend, sagt Klein-Jung. "Bei uns betreut ein Mitarbeiter im Regelfall acht Kinder. Das ist kein ausreichender Standard." Angesichts der zunehmenden Erziehungsdefizite der Kinder müsse der Staat, in diesem Fall das Land Baden-Württemberg, bei den Sozialkosten "noch einiges mehr tun".

Und dennoch, Zustände wie einst, als Kindern nach einer jugendlichen Rauferei zur Strafe schon mal die Arme gebrochen wurden oder sie bei Wasser und Brot für mehrere Tage in den dunklen Keller gesperrt wurden, gibt es nicht mehr. Klein-Jung erzählt die Geschichte, wie unlängst zwei Jugendliche zum wiederholten Male ausgebüxt waren. Jugendamt, Polizei, Eltern, alle wurden alarmiert. Schließlich fand man die zwei und brachte sie zurück zu Klein-Jung. Der lehnte sich zurück und sagte: "Wisst Ihr was: Wenn Ihr noch mal abhauen wollt, sagt es mir vorher. Dann schmiere ich euch zwei Butterbrote. Aber dann braucht ihr nie mehr wiederzukommen." Die zwei Jugendlichen waren darob so verwundert, dass sie den Chef ängstlich fragten: "Sie wollen uns jetzt aber bitte nicht rausschmeißen." Seither sind sie nie mehr getürmt.