Die guten, alten Seiten: Ein Nadeldrucker bannte die erste E-Mail Deutschlands anno 1984 noch auf Lochpapier. Foto: KIT

Sie begann ganz harmlos als ein Projekt unter Wissenschaftlern, doch die E-Mail krempelte bald unsere Kommunikation um. Mit zweifelhaften Folgen: Experten warnen vor Sicherheitslücken.

Karlsruhe -  Es war eine Sensation – auch wenn es sich für Wolfgang Zorn nicht so angefühlt hat. Damals, am 3. August 1984 um 10.14 Uhr im Rechnerraum der Technischen Hochschule Karlsruhe. Auf dem schwarz-grünen Bildschirm des Hochschulrechners flimmerten die Worte: „This is your official welcome to CSNET. We are glad to have you aboard.“ Damit begrüßte die US-Wissenschaftlerin Laura Breeden den Informatiker Zorn und seinen Institutsmitarbeiter Michael Rotert im CSNET – einem frühen Vorläufer des heutigen Internet.

Und dennoch war es aus heutiger Sicht eine Sensation: Die Einsen und Nullen formten die erste E-Mail, die jemals deutschen Boden erreichte. Ein neues Medium war geboren. Dass die elektronische Post eine derart rasante Karriere hinlegen würde, ahnten die beiden Informatiker damals nicht: „Zwar haben Zeitungen darüber berichtet, aber es lief eher unter dem Label ‚Exotenwissenschaft‘“, sagt Wolfgang Zorn, mittlerweile Universitätsprofessor im Ruhestand.

Aus der Exotenwissenschaft wurde schnell eine Massentechnologie, die sich spätestens seit dem Start des World Wide Web im August 1991 wie das sprichwörtliche Lauffeuer verbreitete. Heute, 30 Jahre später, rauschen Schätzungen zufolge weltweit 182 Milliarden E-Mails durch die Datennetze – pro Tag. Das macht auf ein Jahr gerechnet die schier unvorstellbare Summe von über 66 Billionen E-Mails weltweit – und es werden immer mehr.

Die wirtschaftliche Bedeutung haben die Karlsruher Informatiker anno 1984 noch weniger bedacht als die mögliche Verbreitung. Wolfgang Zorn: „Wir haben das aus Entdeckerfreude gemacht und nicht an Geld gedacht.“ Im Gegensatz zu unseriösen Anbietern, die diesen kostenlosen Kanal schnell für ihre Zwecke nutzten, um E-Mails mit unerwünschter Werbung zu verschicken – sogenannter Spam. Schätzungen zufolge beträgt das Spam-Aufkommen derzeit satte 80 Prozent des weltweiten E-Mail-Verkehrs.

Auch wenn man meinen könnte, dass mittlerweile so gut wie jeder Deutsche täglich E-Mails versendet und empfängt, entzieht sich ein Teil der Bevölkerung nach wie vor dieser Technik. Laut einer aktuellen Studie des Bundesverbands der Informationswirtschaft (Bitkom) verfügen „nur“ 78 Prozent der Deutschen über einen E-Mail-Zugang. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit auf Platz sieben. Am eifrigsten nutzen in Europa die Holländer die elektronische Post, der Anteil beträgt dort 90 Prozent. Das Schlusslicht bildet Rumänien: in dem Land nutzen gerade einmal 42 Prozent die elektronische Post.

Einen Brief in Sekundenschnelle verschicken zu können hat unsere Kommunikation spürbar verändert, darin sind sich Experten einig. „Die menschliche Kommunikation hat sich mit der Geschwindigkeit, die die E-Mail mit sich gebracht hat, schnell angefreundet“, sagt Ralf Schneider vom Zentrum für angewandte Kulturwissenschaft (ZAK) in Karlsruhe. „Die E-Mail hat die schriftliche Kommunikation vermündlicht“, sagt er. Die förmliche Anrede, eine Einleitung und Dankesworte – im Schriftverkehr einst gang und gäbe – seien bei E-Mails nur noch die Ausnahme, so Schneider weiter.

Vor allem die Arbeitswelt hat die E-Mail merklich umgekrempelt. Ralf Schneider: „Die Stilform des Diktats beispielsweise kennen wir heute nur noch aus Heinz-Rühmann-Filmen.“ Stattdessen verbringt mancher vor seinem Büro-PC allein Stunden damit, wichtige von unwichtigen E-Mails zu trennen. „Der Arbeitsaufwand ist durch die E-Mail nicht weniger geworden, er hat sich lediglich verlagert“, sagt Schneider.

Annahmen aus den ersten Jahren der elektronischen Post, nach denen der Briefverkehr durch die E-Mail obsolet werden würde, haben sich nur zum Teil bestätigt. „Zwar hat die E-Mail den Brief zurückgedrängt, gleichzeitig hat sie ihn aber auch aufgewertet. Schließlich ist es heute etwas Besonderes, einen persönlichen Brief zu erhalten“, sagt der Wissenschaftler.

Die literarische Form des Briefwechsels zwischen herausragenden Persönlichkeiten der Gesellschaft sieht Schneider allerdings vom Aussterben bedroht: „Da geht vor allem der Wissenschaft viel verloren.“ Kaum einer hebe heute seine E-Mail-Korrespondenz für die Nachwelt auf – egal ob banal oder literarisch wertvoll.

Neben der fehlenden Aufbewahrung steht auch die mangelnde Sicherheit der E-Mail bei Experten in der Kritik. Zwar ist der E-Mail-Verkehr grundsätzlich mit einem Passwort geschützt. Doch der Kryptografie-Professor Jörn Müller-Quade vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) warnt: „Die E-Mail bietet nicht mehr Geheimhaltung als eine Postkarte. Durch die Enthüllungen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden wurde bekannt, dass die amerikanische National Security Agency (NSA) sogar in der Lage ist, den E-Mail-Verkehr ganzer Länder abzuspeichern.“ Demnach könnten Geheimdienste de facto jede Mail öffnen.

Da die Bedrohung aber diffus sei, sähen viele Menschen nicht die Notwendigkeit, sich besser vor Attacken zu schützen, sagt der Professor. E-Mails zu verschlüsseln, mache es Schnüfflern zwar erheblich schwerer. Geheimdienste ließen sich davon allerdings nicht bremsen, so der Experte. „Das ist nur Sand im Getriebe der NSA“, sagt er.

Eine Entwicklung, die weder die E-Mail-Pioniere Wolfgang Zorn und Michael Rotert mit Freude verfolgen dürften noch alle anderen E-Mail-Nutzer.