DHBW-Studiengangleiter Harald Stuhler erläutert den Flüchtlingen das Konzept. Foto: DHBW

Professoren der Dualen Hochschule halten in Stuttgart ehrenamtlich Vorlesungen. Die IHK Böblingen öffnet die Tür zu Betrieben, die Fachkräfte suchen. 20 Flüchtlinge nutzen diese Chance.

Stuttgart - Seit dieser Woche erhalten Flüchtlinge mit technisch-akademischer Vorbildung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Stuttgart ein besonderes Angebot: Unter dem Titel „Türen öffnen, Perspektiven schaffen“ haben die IHK-Bezirkskammer Böblingen und eine Gruppe ehrenamtlicher Professoren der DHBW ein Projekt initiiert, das die Flüchtlinge fit für Unternehmen machen soll. Ein Semester lang dürfen sie gebührenfrei eine Vorlesung besuchen, die technisch orientiert und speziell auf sie zugeschnitten ist. Im August endet sie mit einer Prüfung samt Zertifikat. Zudem erhalten die Flüchtlinge die Möglichkeit, sich in Form von Praktika bei Betrieben im Landkreis Böblingen einzubringen und als Arbeitskraft zu präsentieren. Auf Anhieb fanden sich 20 Teilnehmer.

„Es ist ein Experiment“, sagt der Stuttgarter DHBW-Rektor Joachim Weber. Das Projekt sei auch vor dem Hintergrund des anhaltenden Fachkräftemangels und der Suche nach Ingenieuren entwickelt worden, macht Andreas Hadler deutlich, der Präsident der IHK-Bezirkskammer Böblingen. „Unsere Idee ist auf breites Interesse gestoßen“, so Hadler. Damit meint er nicht nur die rund 100 interessierten Betriebe, sondern auch die Flüchtlinge. Bei einer Infoveranstaltung im April seien 40 Interessenten da gewesen. Dass am Montag 20 von ihnen mit dem Schnuppersemester begonnen haben, darunter auch drei Frauen, sei doppelt so viel wie erwartet, stellt Hadler erfreut fest.

Teilnehmer hoffen auf neue Studien- und Berufsperspektive

„Ich hoffe, ich kann hier Arbeit finden“, sagt Arefeh Zanjani. Die 27-jährige Diplominformatikerin lebt seit einem Jahr in einem Flüchtlingsheim in Herrenberg und hatte zufällig von dem Angebot erfahren – per Mund-zu-Mund-Propaganda. Auch ihr 32-jähriger Bruder nimmt an dem Projekt teil. Er hofft, dass er hier studieren kann. Andere junge Männer stammen aus der westsyrischen Stadt Homs, die dem Erdboden gleichgemacht wurde. Sie konnten dort zum Teil nicht fertig studieren – „wegen Krieg“. Nun hoffen sie auf eine neue Chance in Stuttgart. Eine andere Teilnehmerin stellt sich als Dozentin für Maschinenbau an der Uni in Damaskus vor – mit ihren zwei Kita-Kindern konnte sie fliehen und sucht nun eine neue Perspektive. Auch Mathematiker, Elektro- und Bauingenieure sind unter den Teilnehmern. Es ist eine durchaus gemischte Gruppe, ethnisch wie fachlich.

Entsprechend generalistisch haben Harald Stuhler, der Studiengangleiter Fahrzeug-System-Engineering an der DHBW, und seine sechs Professorenkollegen die Vorlesungen angelegt. „Das ist nicht nur eine Kaffeeveranstaltung“, kündigte Stuhler den Schnupperstudierenden an. Montags bis donnerstags jeweils vier Stunden Vorlesung, von 8. bis 11. April Prüfungen – wenn’s gut läuft, mit einem Zertifikat.

Auf die Teilnehmer kommt viel Fachliches zu: Messtechnik, Konstruktionslehre, Unternehmenssimulation, Projektmanagement – plus Labore und Übungen. Ein Heft mit Übungsaufgaben hat jeder Teilnehmer gleich mitbekommen. „Machen Sie Lerngruppen“, rät Stuhler. Auch auf Bibliothek, Rechner und Arbeitsräume in der DHBW können die Teilnehmer zugreifen, Fahrtickets uns Skripte bekommen sie spendiert.

Hochschule fordert große Leistungsbereitschaft – und zertifiziert das Geleistete

„Vorwissen ist uns egal – wir wollen, dass Sie viel dazulernen“, sagt Stuhler. „Das Ziel ist, dass Sie arbeitsfähig sind – Sie kriegen die gleichen Prüfungsaufgaben wie unsere deutschen Studierenden.“ Weber ergänzt: „Wir zertifizieren, was die Flüchtlinge tatsächlich gemacht haben.“ Vielleicht könne dieses Vorgehen ja eine Alternative zu den Einstufungstests sein. „Wenn das Projekt funktioniert, könnte das Schule machen“, meint Hadler.

Marion Oker, die Geschäftsführerin der IHK-Bezirkskammer Böblingen, ist von der Leistungsbereitschaft der Teilnehmer überzeugt. Schon die Art, wie diese ihre Bewerbung für die Teilnahme präsentiert hätten, zeige, wie ernst sie diese Chance nähmen. „Die Leute haben uns alle ihre Lebensläufe geschickt“, sagt Oker, und zwar picobello – einige hätten sie persönlich vorbeigebracht, perfekt gestylt mit Anzug und Krawatte.

Weitere Flüchtlinge und Betriebe erwünscht

Dass sich sieben Professoren gefunden haben, die bereit sind, 200 Stunden Vorlesung in ihrer Freizeit zu schultern, nötigt Oker und Hadler Respekt ab. Unter ihnen sind auch Stuhlers Kollegen Szabolcs Peteri aus Ungarn und Rachid Nejma aus Marokko. Beide wissen, wie es sich anfühlt, Fremdling zu sein. Sie hatten sofort zugesagt. Es sei „ein hartes Stück Arbeit – für uns, aber auch für sie“, meint Peteri. „Wir können noch ein paar Studierende gebrauchen“, so Oker. „Die nächsten zwei, drei Wochen kann man noch einsteigen.“ Und Präsident Hadler hofft auch auf weitere Betriebe.