Politikwissenschaftler Oscar Gabriel: Negative Einstellungen zu Politikern gab es schon immer, konkrete Bedrohungen dagegen sind ein neues Phänomen Foto: dpa

Politiker, die sich wie die Ministerpräsidenten Tillich (Sachsen) und Ramelow (Thüringen) für Flüchtlinge einsetzen, sehen sich mit Drohungen konfrontiert. Der Politikwissenschaftler Oscar Gabriel spricht von einem neuen Phänomen.

Berlin/Stuttgart - Herr Gabriel, im Zuge steigender Flüchtlingszahlen scheinen Drohungen gegen Politiker zuzunehmen. Was passiert da gerade?
Wir erleben zurzeit die Umsetzung dessen, was sich auf der Einstellungsebene schon seit längerer Zeit abspielt. Politiker haben in Teilen der Bevölkerung ein schlechtes Image. Bislang war es jedoch immer ein weiter Schritt von negativen Stereotypen zu Bedrohungen oder gar zur Anwendung von Gewalt. Hier scheint eine Enttabuisierung stattzufinden. Das ist eine überraschende und neue Entwicklung.
Kann man von einer Verrohung sprechen?
Ja, sicher. Das haben Sie auch in anderen Lebensbereichen: im Fußball, bei der Jugendkriminalität. Dieses Phänomen greift jetzt zunehmend auf Lebensbereiche über, die davon bisher nicht erfasst worden sind.
Welche Rolle spielen dabei das Internet und die sozialen Netzwerke?
Das Internet bietet die Möglichkeit, sich kostenfrei Gewaltdarstellungen zu beschaffen – das wird extensiv genutzt. Gleichzeitig bieten die sozialen Medien die Möglichkeit, sich darüber auszutauschen.
Überträgt sich die Tonart, die einem dort begegnet, auf die politische Auseinandersetzung insgesamt?
Das glaube ich nicht. In der Politik geht es bei uns verhältnismäßig zivilisiert zu. Dagegen hat sich die Tendenz zur verbalen Gewalt in Teilen der deutschen Bevölkerung offenkundig verstärkt.
Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich hat seine Facebook-Seite stillgelegt – zu viele Beschimpfungen. Verständlich?
Ich kann das nachvollziehen. Politiker zu sein ist keine vergnügungssteuerpflichtige Angelegenheit. Politiker müssen einen hohen Einsatz bringen, sind schlecht bezahlt und dürfen weder Ruhm noch Ansehen erwarten.
Der Laichinger Bürgermeister Klaus Kaufmann wurde jüngst bedroht, weil er an gefallene alliierte Soldaten erinnern wollte. Öffentlich beklagt er jetzt, diese Entwicklung sei nicht gerade ein Werbeprogramm für den Politikerberuf. Hat er recht?
Absolut.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Verrohung und dem Auftreten von Pegida?
Pegida ist eine Folge dieser Entwicklung, nicht die Ursache. Die Ursache sehe ich tatsächlich darin, dass Gewaltdarstellungen so leicht zugänglich sind. Dazu kommt ein Verlust von zivilen Einstellungen und Verhaltensweisen in weiten Teilen der Bevölkerung. Da versagen auch die Elternhäuser. Vieles wird auf die Schulen abgeschoben, die damit überfordert sind. In der Primärsozialisation läuft einfach vieles schief.
Vor allem die Themen Asylbewerber, Flüchtlinge und Islam sind Anlass für üble Beschimpfungen bis hin zu Drohungen. Warum gerade diese Themen?
Das sind kulturelle Konflikte, die sich durch Kompromisse und Ausgleich nicht lösen lassen. Früher hat sich dies vor allem in religiösen Konflikten geäußert. In der heutigen multiethnischen Gesellschaft ist es das Problem der ethnischen Zugehörigkeit, das die Menschen entzweit. Eine besondere Sprengkraft entwickeln Konflikte, die zugleich eine ethnische und eine religiöse Komponente aufweisen, etwa die Konflikte zwischen eingewanderten Muslimen und der einheimischen Bevölkerung.
Lässt sich das lösen?
Kurzfristig nicht. Es hat ja auch sehr lange gedauert, bis das Zusammenleben der Religionen in Europa friedlich verlaufen ist.
Als Ministerpräsident Winfried Kretschmann unlängst sagte, der Islam gehöre „auch zu Baden-Württemberg“, waren wütende Proteste in sozialen Netzwerken die Folge. Dürfen Politiker das nicht aussprechen?
Ich finde es schon problematisch, dass einzelne Themen tabuisiert werden und es dann zu diesen Shitstorms im Internet kommt. Doch das ist der Preis einer größeren Nähe von Politik und Bürgern. Die Schwellen für den direkten Kontakt zwischen Politikern und Bevölkerung waren noch nie so niedrig wie heute. Es macht keine Mühe, im Internet seine Meinung abzusetzen; das ist viel einfacher, als einen Brief zu schreiben. Zu beobachten ist auch, dass der Respekt vor Autoritäten in der Bevölkerung verloren gegangen ist – das hat positive, aber auch negative Aspekte.
Hat Integrationsministerin Bilkay Öney recht, wenn sie sagt, Politiker müssten mit derlei Anfeindungen leben?
So ist das.
Anfeindungen richten sich auch gegen die Medien. Exemplarisch steht dafür der Vorwurf „Lügenpresse“. Ist das in negativer Hinsicht eine neue Qualität von Kritik?
Ja, man kann beobachten, dass viele Leute dazu übergehen, ihren persönlichen Frust in Aggressionen umzuwandeln, und das erfasst dann alle: die Politiker, die Medien, auch mich als Interviewpartner. Das ist unschön. Ich hoffe aber, dass sich das irgendwann einpendeln wird.