Mitten im Sonnenblumenmeer: Das Peleton vor idyllischer Kulisse, doch wie steht es um das Reinheitsgebot im Radsport? Foto: Getty

Tony Martin sagt, dass 98 Prozent der Fahrer sauber sind. Experten halten das für Unsinn. Fakt ist: Doping spielt bei der Tour bisher keine Rolle. Dass es dabei bleibt, ist nicht sicher.

NUITS-SAINT-GEORGES - Am simpelsten ist es, zu denken wie Heiko Maas. Der Radsport-Fan, nebenbei auch Bundesjustizminister, erklärte beim Start der Tour de France in Düsseldorf kurzerhand das Thema Doping für beendet. Angesichts der vielen Dinge, die in der Vergangenheit schief gelaufen seien, bis hin zum systematischen Betrug, sei nun der Zeitpunkt gekommen, um zu sagen: „So ist es nicht mehr!“

Woher der Mann, in dessen Zuständigkeit das Anti-Doping-Gesetz fällt, diese Erkenntnis nimmt, verriet er nicht. Vielleicht hat er ja mit Tony Martin gesprochen. Der viermalige Weltmeister im Zeitfahren aus dem umstrittenen Katjusha-Team antwortete auf die Frage, wie sauber der Radsport sei: „Zu 98 Prozent. Massenbetrügereien gibt es definitiv nicht mehr.“ Umgerechnet bedeutet das: Unter den 198 Fahrern, die in die Tour gestartet sind, gibt es vier Doper.

Vier! Vier?

Die dunkelsten Zeiten des Radsports sind vorbei, meint Sörgel

Womöglich hat Marcel Kittel an den Kollegen Tony Martin gedacht, als er nach seinem Etappensieg in Lüttich über Verantwortung sprach. Und davon, dass man den Leuten keinen Quatsch erzählen dürfe. Ähnlich denkt auch Fritz Sörgel. Die dunkelsten Zeiten des Radsports, meint der Anti-Doping-Experte, lägen zwar schon einige Jahre zurück: „Aber dass seither die Dopingquote von 30 bis 40 auf zwei Prozent gesunken sein soll, halte ich für abwegig. Das ist eine Beruhigungsziffer. Eine Einlullzahl.“

Wie also steht es um das Reinheitsgebot im Radsport? Trügt der schöne Schein?

Wer die Antwort bei der Tour sucht, tut sich schwerer als ein Sprinter in den Kehren hinauf nach L’Alpe d’Huez. Dieses Rennen ist ein Nachrichten-Moloch, produziert ständig neue Schlagzeilen. Etappe für Etappe. Früher ging es dabei oft um Doping. Diesmal steht das „Kennzeichen D“ für Deutschland. Millionenpublikum beim Grand Départ, drei Siege für Kittel, erster Erfolg für das Team Bora-hansgrohe, der umstrittene Ausschluss von Peter Sagan, dem Superstar des deutschen Rennstalls. Mehr geht nicht. Aber Doping? Ist, abgesehen von Epo-Sünder André Cardoso (Portugal), der schon vor dem Start aus dem Verkehr gezogen wurde, (noch) kein Thema. Was sicher auch ein bisschen mit den Machenschaften in Russland zu tun hat.

Natürlich wird nicht nur in Russland gedopt

Kronzeugin Julia Stepanowa und Wada-Sonderermittler Richard McLaren deckten nicht nur auf, dass es in dem Riesenreich ein staatlich gesteuertes und vom Geheimdienst unterstütztes Dopingsystem gab, sie machten auch dem letzten Romantiker klar: Spitzensport ist Spritzensport. Im Sommer, im Winter. Egal in welcher Disziplin. Allein in Russland sollen mehr als 1000 Athleten aus 30 Sportarten Teil des Systems gewesen sein – Leichtathleten, Skilangläufer, Gewichtheber, Fußballer. Und natürlich wird nicht nur dort gedopt. Sondern weltweit.

Was das alles mit den Pedaleuren zu tun hat? Auf dem Weg in den Abgrund haben sich andere nach vorne gedrängt. Mehr noch: Nicht wenige bescheinigen dem Radsport sogar, die Kehrtwende geschafft zu haben. Zu ihnen gehört Francesca Rossi. Sie ist die Chefin der Stiftung CADF, dem Anti-Doping-Gremium des Radsport-Weltverbandes. „Wir sind nicht naiv. Doping ist eine Realität“, sagt Rossi, „aber die Situation ist bei weitem nicht mehr so gravierend wie vor zehn Jahren. Es hat ein Umdenken stattgefunden.“ Stattfinden müssen. Es gibt im Radsport ein engmaschigeres Kontrollnetz als in vielen anderen Sportarten und seit 2008 den Blutpass, mit dem die individuellen Werte überwacht werden. Maßlos zu dopen, scheint heute kaum mehr möglich. „Im Radsport wurde früher und mehr betrogen als in anderen Sportarten“, sagt Tour-Chef Christian Prudhomme. „Doch es gab nach dem Geständnis von Lance Armstrong einen generellen Bewusstseinswandel. Der Radsport ist nicht mehr das hässliche Entlein des Sports.“ Aber auch kein schöner Schwan.

Kontrollen sind kein Allheilmittel

Denn Kontrollen, das zeigt die dürftige Erfolgsquote, sind kein Allheilmittel. „Das System ist immer noch löchrig“, sagt Fritz Sörgel, „es wird täglich an neuen Methoden des Dopens geforscht.“ Sein Kollege Perikles Simon zum Beispiel geht davon aus, dass Topathleten längst mit ihrem eigenen Epo-Molekül unterwegs sind. „Das kann man sich für einige zehntausend Euro im Internet zusammenbauen lassen“, sagt er, „es ist absolut nicht nachweisbar. Ähnliches gibt es auch für Testosteron. Wer will, kann im Hochleistungssport das ganze Jahr über voll gedopt starten, ohne erwischt zu werden.“

Was das für den Radsport bedeutet, ist aktuell schwer zu sagen. Weil nicht legitim wäre, von der Vergangenheit, als das Peloton einem chemischen Versuchslabor glich, auf die Gegenwart zu schließen. Andererseits sagt Michael Rasmussen, dass sich so viel gar nicht verändert habe. „Ich hatte nie Auffälligkeiten im biologischen Pass – und ich hätte sie auch heute nicht“, erklärt der Dänen-Doper, der bei der Tour 2007 im Gelben Trikot von seinem Rabobank-Team aus dem Rennen genommen wurde, „ich könnte exakt dasselbe machen wie damals und würde nicht entdeckt werden.“

Auch Jörg Jaksche glaubt nicht an die Läuterung des Radsports. Doping könne schon morgen wieder das große Thema werden bei der Tour. „Die Branche ist weiter voll von Leuten, die nichts anderes können als Radsport“, sagt der Ex-Profi, „es gibt niemanden, der sich wirklich glaubwürdig gegen Doping einsetzt.“ Bengt Kayser wundert sich darüber nicht. Weil es ein Kampf gegen Windmühlen wäre. „Die Tour sauber zu bekommen“, meint der Anti-Doping-Experte aus der Schweiz, „ist der Versuch, etwas zu schaffen, das es nie gab.“

Vielleicht sollte Heiko Maas mit ein paar Leuten mehr sprechen, ehe er das Thema Doping das nächste mal für beendet erklärt.