Sebastião Salgado bei den Yali in Papua. Klicken Sie sich durch unserere Bildergalerie.Foto: Foto: NFP/Filmwelt

Analyse dessen, was vor sich geht – oder Ästhetisierung von Leid? Das Werk des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado ist so berühmt wie umstritten. Jetzt gilt Salgado ein Filmporträt.

Wie Ameisen im sandigen Hügel, wie Asseln unter morschem Holz: Menschenköpfe drängeln in der Mine des brasilianischen Mittelgebirges Serra Pelada. Einer der geschichtlich gewaltigsten Goldräusche treibt die Schürfer durchs Wirrwarr, lässt sie über Leitern und Leute krabbeln, mittellose Bauern und Glücksritter. „Sie sind Sklaven der Vorstellung, reich zu werden“, kommentiert Sebastião Salgado aus dem Off. Mit seiner Kamera konservierte der sozialdokumentarische Fotoreporter das unbändige Reichtumsstreben, den Knochenjob der Schuftenden.

Diese Aufnahmen sind längst berühmt. Ebenso wie andere seiner geopolitisch relevanten Werke über Vertriebene, Hungerleidende und Kriegsopfer. Die Dokumentation „Das Salz der Erde“ wiederum begleitet Salgado – und diese Position ist für die Psyche nicht minder marternd.

Salgados Sohn, Juliano Ribeiro Salgado, und Wim Wenders begleiteten den 70-jährigen Brasilianer auf eine Reise mit unbestimmtem Ziel. Neben der Regiearbeit des Nachwuchses hielt man einen zweiten, außenstehenden Regisseur für unabdingbar.

Krankheit hinderte Wenders daran, Salgado persönlich in den Norden Sibiriens und auf eine Ballon-Expedition gen Namibia zu folgen. Der Sohn besaß allerdings ohnehin schon massig Videomaterial. Wenders konzentrierte sich auf die Auswertung der ebenso reichen Fülle an Fotografien. Anfangs noch ab und an im Bild, schleicht er mit fortschreitender Filmdauer in den Hintergrund. Sein genialer Einfall setzt den in Paris lebenden Lichtbildner beeindruckend in Szene: Mit Hilfe eines halbdurchlässigen Spiegels filmt die Kamera durch die jeweiligen Fotografien hindurch.

Beim Erzählen blickt der Fotograf also auf seine Werke, sieht aber gleichzeitig dem Zuschauer direkt in die Augen. So wie er es sein Leben lang auch mit den weltweiten Übeln tat. Seine Anekdoten setzen die Fotografien in Bewegung, lassen sie Sprecher und Hörer durchleben.

Die US-amerikanische Publizistin Susan Sontag kritisierte Salgados Arbeit als Ästhetisierung von Leid, die, Geschädigte anonymisierend, den Künstler rühmte. „Das Salz der Erde“ kontert: Salgado, der ausschließlich in Schwarz-Weiß fotografiert, spricht mit Gefühl. Er atmete Seite an Seite mit den Abgebildeten, versuchte, ihr Schicksal zumindest in Ansätzen zu teilen. Das Erlebte fraß sich in seine Seele: „We humans are terrible animals“, wir Menschen sind furchtbare Tiere, konstatiert Salgado. Er hat allen Grund dazu, er hat alles gesehen: regelmäßige Kinderbeerdigungen in Brasilien, Choleratote in Äthiopien – bis auf die Knochen abgemagerte Menschen, die sich ans Sterben gewöhnt haben, wie er sagt. Sein Lebenswerk trieb ihn in die Depression. Flüchtlingserlebnisse in Ruanda raubten ihm, gleich einem Gnadenstoß, den Glauben an die Erlösung der Menschheit.

So nah wie es die Leinwand vermag, zerren Wenders und Salgado jr. diese Eindrücke in den Kinosaal. Kaum auszuhalten, dass hierzulande zeitweilig kein Problem jenes streikender Lokführer dominiert und dennoch so viel Unmut herrscht.

2004 kämpft sich Salgado aus dem Tief heraus. Er beginnt unter dem Projekttitel „Genesis“ unberührte, quasi paradiesische Orte abzulichten: Auf einer Insel am Polarkreis robbt er sich an Eisbären heran, in Amazonien verbringt er einen Monat bei einem indigenen Volk. Hier findet sich schließlich auch Platz für die naheliegende Vater-Sohn-Geschichte: die Wege der beiden Salgados hatten sich getrennt, Juliano Ribeiro studierte in London. Der Vater fragte an, ob er ihn auf seiner „Genesis“-Reise nicht begleiten wolle. Der Sohn bejahte: „Zwischen meinem Vater und mir entwickelte sich ein Dialog; oder besser gesagt, er begann wieder.“ Nicht nur Salgado, auch der Streifen findet wieder ins Licht. Die zermürbenden Aufnahmen wirken freilich unvermindert fort.

Das letzte Kapitel erzählt von Salgados ökologischem Einsatz zur Wiederherstellung des Atlantischen Regenwaldes. Ohne Frage bestechen die Erfolge, das Instituto Terra pflanzte mehr als 3,5 Millionen Bäume. Ein versöhnliches Finale . So steht „Das Salz der Erde“ in Einklang mit Salgados Leben: Die menschliche Natur zerriss sein Herz, die blühende Natur fügte es wieder zusammen. Narben bleiben.

In Stuttgart im Atelier am Bollwerk