Die Digitalisierung verändert unseren Alltag – wie wir einkaufen, arbeiten und uns fortbewegen. Und sie verändert die Unternehmen in unserer Region. Heute: Wie Kunden zu Mitarbeitern und ihre Daten zu Geschäftsmodellen werden.

Zum Googeln verführt

Am Abend des 20. Aprils 2015 fühlte sich Tobias Ritters zum ersten Mal seit langer Zeit wieder verstanden. Drei kleine Werbebotschaften auf seinem Smartphone-Display zeigten genau das, worum er seine Frau im Alltag vergeblich gebeten hatte: Die richtige Pilssorte, ein Lob auf reifere Männer, die romantische Komödie in einem Stuttgarter Multiplex.

Kurz zuvor hatte Ritters seine Wünsche seinem Smartphone und dem Internet anvertraut: Er sprach mit Facebook-Freunden über seine Midlife-Crisis, googelte nach „Penelope Cruz“, und sein Handy-GPS lokalisierte das abendliche Frustbier in der Gaststätte in Stuttgart-Ost. Diese Daten analysierten Internetgiganten wie Google und Facebook in Sekundenschnelle und spuckten die passenden Angebote aus, in der Ritters als Käufer die Hauptrolle spielt – in der virtuellen wie auch realen Welt.

Ritters Name ist erfunden, doch sein Beispiel könnte auch für jeden Einzelnen der Müllers und Meiers im Land stehen. Ob sie sich von den Werbebotschaften verstanden, beobachtet, bedroht oder umworben fühlen – immer greift bei ihnen das gleiche Prinzip: Aus einem Datenmeer wird für sie mit einem winzigen Netz das passende Angebot gefischt. Das Netz ist aus Algorithmen geknüpft, die die Internetgiganten geheim halten. Kein Geheimnis ist: Mit den Datennetzen fischen sie auch in der Region Stuttgart dem stationären Handel Kunden ab. „Amazon hat mit seiner Datenmacht einen riesigen Vorteil. Die stationären Händler müssen mehr Informationen über ihre Kunden sammeln und sie noch zielgerechter verwerten, um nicht auf Dauer ins Hintertreffen zu geraten“, heißt es beim Handelsverband Baden-Württemberg.

Big Data wird dieses Prinzip genannt. Es ist die wichtigste und raffinierteste Masche der digitalen Revolution. Sie verändert unser Kaufverhalten. Sie macht uns zu Mitarbeitern. Sie schafft Jobs – und bedroht sie zur gleichen Zeit.

Zum Kauf verführt

Erdöl war der Schmierstoff für das Industriezeitalter. Heute sind Daten der Rohstoff für die Ära der grenzenlosen Dienste. Im Gegensatz zum Öl lassen sich Daten über das Internet jederzeit von jedem Ort der Welt fördern. In atemberaubender Geschwindigkeit werden sie von Verbrauchern, Firmen und Maschinen neu eingespeist. Gut drei Milliarden Menschen weltweit sind bereits an das Internet angeschlossen. Hinzu kommt eine Milliardenzahl von vernetzten Haushaltsgeräten, Industriemaschinen und intelligenten Sensoren, auch „Internet der Dinge“ genannt. Weltweit knüpfen Firmen, Universitäten und Krankenhäuser an den raffiniertesten Netzen, um aus all diesen Daten für ihre Zwecke Geld, Erkenntnis oder Heilung zu fischen.

Auf diese Weise empfiehlt Amazon den Verbrauchern Bücher, die zu ihren Lesegewohnheiten passen. Supermarktkunden erhalten aufgrund ihres Einkaufsverhaltens einen Rabatt für bestimmte Produkte. Ein deutscher Autoversicherer testete bereits individuelle Tarife, die sich auf die Auswertung des Fahrverhaltens stützten. Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg analysiert das Erbgut der Patienten, um aus Tausenden von Behandlungsmöglichkeiten die individuell wirksamste anzuwenden. Künftig könnten Firmen ihre Dienstleistung oder Ware individuell für jeden einzelnen Kunden zu einem individuellen Preis anbieten.

Doch der Kunde wird nicht nur immer genauer erfasst. Schon jetzt leiten Unternehmen aus dem Kundenverhalten der Vergangenheit Rückschlüsse für die Zukunft ab – Analysehilfsmittel von Firmen wie SAP oder IBM machen es möglich. Würde die Tochter von Tobias Ritters im Internet wiederholt nach „Eisprung“ googeln und sich einen Schwangerschaftstest bestellen, könnten auf ihrem Computer Babywindeln oder das Buch der 100 populärsten Vornamen als Werbebotschaften blinken, bevor ihr Vater von der geplanten Schwangerschaft erfährt.

Zur Mitarbeit verführt

Mit Kundendaten lassen sich nicht nur Geschäfte machen. Mit ihnen werden traditionelle Geschäftsideen attackiert und neue geschaffen. So wie es der US-Anbieter Airbnb oder Gloveler aus Karlsruhe mit ihrer Vermittlung von Unterkünften praktizieren. Es sind Plattformen, bei denen Zimmersuchende und Zimmeranbieter auf privater Basis zusammenkommen. In Stuttgart, in Sindelfingen, in Esslingen. Die Kunden machen dabei fast alles selbst. Die Anbieter beschreiben Zimmer und Service, stellen Fotos ein, kümmern sich um die Termine, die Sauberkeit, das Essen, den Check-in. Auch die Zimmersuchenden beschreiben sich selbst und übernehmen abschließend die Qualitätskontrolle, indem sie die Anbieter bewerten. Die wiederum bewerten ihre Gäste.

Und was machen Airbnb und Gloveler? Sie kaufen keine Hotels oder Wohnungen und investieren auch sonst nichts in eine herkömmliche Infrastruktur. Sie bieten lediglich Rechner im Netz und den Algorithmus, der all diese Daten auswertet und damit die Kunden zusammenbringt. Und schon kassiert die neue Internet-Ökonomie dafür eine Provision. Bei den Konkurrenten aus der alten Wirtschaftswelt stößt das auf massive Kritik. „Die Frage ist, ob die Zimmeranbieter die gleichen Vorschriften wie Hotels erfüllen, zum Beispiel beim Brandschutz und bei der Hygiene“, heißt es beim Hotel- und Gaststättenverbandverband (Dehoga) in Baden-Württemberg. „Für uns ist es eine Verzerrung des Wettbewerbs.“

„Plattform-Kapitalismus“ nennen Kritiker das Prinzip Airbnb. Man könnte auch „Datenkapitalismus“ dazu sagen. Der Datenkapitalismus macht die Kunden zu Mitarbeitern und lässt sie auch dafür noch mit ihren Daten zahlen. Die meisten Kunden lassen sich gerne engagieren, weil sie etwas Geld sparen können und mitunter einen persönlicheren Kontakt haben als in einem Hotel. Der Datenkapitalismus attackiert den Tourismussektor und hebelt Dienstleistungsbranchen  aus. Doch hat er auch die Macht, mit der traditionellen Industrie zu konkurrieren, von der der Südwesten lebt – dem Automobil- und Maschinenbau?

Zur Revolution gezwungen

Auch auf den Automobilbau erzeugen die Kunden den Druck. Weil sie es gewohnt sind, sich jederzeit und  überall  mit dem Internet zu vernetzen, wünschen sie sich, dass Autos Smartphones auf Rädern sind – Unterhaltungsmobil, Büro und Kommunikationszentrale in einem. Ein Auto selbst zu steuern ist gerade für die Jüngeren kaum noch erstrebenswert. Deshalb sorgte Googles Vision vom führerlosen Auto für so großes Aufsehen. Auch Daimler testet mit seiner Flotte nicht nur das autonome Fahren, sondern rüstet die Elektronik und Software immer stärker auf, um so Kommunikation, Verkehr, Sicherheit und Wartung zu steuern und mit dem Internet zu vernetzen.

Damit tastet sich der Autobauer immer weiter vor in die digitale Welt. Und holt sich dabei auch Googles und Apples Betriebssysteme ins Auto, weil die Software der beiden Internet-Giganten besonders bedienerfreundlich ist und die meisten Verbraucher sie auch im Auto nutzen wollen. Google und Apple wiederum sehen das Auto als weitere Möglichkeit, mit ihren Betriebssystemen neue Dienstleistungen und Werbung anzubieten. Nach Smartphone und Tablet wollen die Giganten mit dem Auto die traditionelle Industrie erobern. Google und Daimler brauchen dabei einander. Die Welt der Software und die der Hardware – der deutschen Ingenieurskunst – kommen im Auto als Feind und Freund zugleich zusammen. Die Frage ist, wer künftig das Sagen hat: Wird Daimler Zulieferer von Google oder Googles Betriebssystem ein schickes Extra, das Daimler mit einbaut?

Am Ende gewinnt, wer den Zugriff auf die anfallenden Daten hat – vor allem auf die Kundendaten. Denn wer die Daten am besten analysiert und für sich nutzt, hat in der digitalen Ära die größte Macht und sitzt an der Geldquelle. Dieses Prinzip gilt praktisch für alle Branchen – Handel, Automobil, Maschinenbau, Banken, Handwerk. Die Internetunternehmen sind mit diesem Prinzip aufgewachsen. Die deutschen Firmen lernen es gerade. Die Kunden handeln bereits danach.