Mick Jagger und die Rolling Stones beim Auftritt auf der Berliner Waldbühne Foto: dpa

Die beste Rentnerband der Welt: Die Rolling Stones sind am Dienstag auf der Berliner Waldbühne aufgetreten. Bei der zweistündigen Show vor 22 000 Fans - darunter viele Prominente - zeigte sich die Band in Höchstform.

Berlin - Am Ende ist die idyllischste aller Konzertbühnen Deutschlands ein Trümmerhaufen. 20000 Fans sind frustriert, einige wütend und gewaltbereit. Flaschen fliegen durch die Nacht, Absperrgitter werden niedergerannt, die Stuhlreihen zerschlagen. 89 Randalierer werden festgenommen, 26 Polizisten verletzt, geschätzter Sachschaden 300 000 D-Mark. Die Waldbühne ist reif für den Sperrmüll. Der Wiederaufbau wird Jahre dauern.

So die Bilanz des Auftritts der Rolling Stones auf der Berliner Waldbühne. Natürlich nicht die des Konzerts, das die Band am Dienstagabend gegeben hat, sondern die des Auftritts am 15. September 1965 im Rahmen ihrer allerersten Deutschlandtournee. Eine Show, mit der in Deutschland ein Kulturkampf beginnt. In dessen Mittelpunkt: diese neue, wilde Beatmusik.

20 Mark haben die Fans bezahlt. 1965 ist das sehr viel Geld. Erst recht für ein Konzert, das nur eine knappe halbe Stunde dauern und ohne Zugabe zu Ende gehen wird. Irgendwie geht sowieso von Anfang an alles schief. Schon als die Band großkotzig mit Solomon Burkes Soulnummer „Everybody Needs Somebody To Love“ loslegt, gibt es Tumulte. Einige versuchen, die Bühne zu stürmen, die Band flieht. Als sie zurückkommt, spielt sie lustlos Nummern von Otis Redding, Chuck Berry oder Hank Snow, hat aber auch ein brandneues, selbst geschriebenes Lied im Programm. Erst vier Monate zuvor ist Keith Richards die Idee für ein Gitarrenriff gekommen, das er flugs auf seinem Kassettenrekorder aufnimmt und Mick Jagger vorspielt, dem dazu die Textzeile „I can’t get no satisfaction“ einfällt. Daraus soll einer der besten Songs aller Zeiten werden (vielleicht der zweitbeste nach Bob Dylans „Like A Rolling Stone“) – ein wunderbares Lamento, das die Reizüberflutung und die Nimmersattmentalität der modernen Zeiten besser als jeder andere abbildet und nebenher die innere Unruhe, die der Kern der Rock’n’Roll-Revolte ist, knackig verpackt.

„(I Can’t Get No) Satisfaction“ ist dann auch der einzige Song, den die Stones sowohl im September 1965 als auch jetzt am Dienstag beim Konzert auf der Waldbühne in ihrem Repertoire haben. Nicht nur die sich gegen den Rhythmus anstemmende Gitarrenmelodie wirkt immer noch verblüffend frisch, sondern auch die Band selbst, die ihn als letzte Zugabe ihrer zweistündigen Show spielt, die mit einem Feuerwerk endet.

„Wir sind zurück auf der Waldbühne“, ruft der immerjunge Mick Jagger, „was für ein schöner Ort“ und stolziert über die Bühne, Ron Wood haut ein Solo nach dem anderen raus, Charlie Watts trommelt zuverlässig wie immer, und selbst Knautschgesicht Keith Richards hat einen richtig guten Tag erwischt und erzählt nuschelnd Witze. Zum Beispiel als jemand Publikum etwas Unverständliches dazwischenruft: „Hey Mann, ich würde mich ja gerne länger mit dir plaudern“, sagt Richards, „aber ich habe hier einen Job zu erledigen.“

Beim ersten von zwei Deutschlandkonzerten spielen die Stones zwei Stunden. Mick Taylor, der zwischen 1969 und 1974 Leadgitarrist der Rolling Stones war, ist nicht nur beim Finale als Gast dabei, sondern sorgt auch dafür, dass die Nummer „Midnight Rambler“ einen knurrigen bluesigen Einschlag bekommt und sich wie eine Jamsession anfühlt. Bei „You Can’t Always Get What You Want“ verstärkt der Chor Fabulous Fridays von der Berliner Universität der Künste die Stones, auf dem Programm stehen außerdem „Honky Tonk Women“, „Gimme Shelter“, „It’s Only Rock’n’Roll (But I Like It)“ oder „Jumpin‘ Jack Flash“. Es gibt also keinen Grund zu meckern.

Anders als bei der Show im Jahr 1965. Bei ihrem ersten Deutschlandtour gefallen sich die Rolling Stones, die damals noch aus Mick Jagger, Brian Jones, Keith Richards, Charlie Watts und Bill Wyman bestehen, noch als Bürgerschreckcombo: „Fünf junge Männer, die die Haare länger tragen als Mädchen und eine erbärmlich einfallslose primitive Musik zum Besten geben“, urteilt damals die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Und auch auf der anderen Seite der Mauer misstraut man dieser Musik. In der „Berliner Zeitung“ liest man, die Rolling Stones machten keine Musik, sondern „schmutzige Politik“, „die Ereignisse in der Waldbühne sind Teil der psychologischen Kriegsvorbereitung. Statt einer konstruktiven, die Jugend fördernden Entwicklung bietet man den jungen Menschen fünf geistesschwache ’rollende Steine‘.“ Die Beatmusik wird zum Soundtrack des Aufruhrs.

Heute glaubt kaum einer mehr, dass diese Band gefährlich und jugendverderbend ist. Und falls die Fans, die 1965 laut Rias Berlin„lange Haare, schlampige Kleidung und dicke verschmutzte Pullover“ trugen, wieder da sind, sind sie inzwischen mit der Band gealtert, der Bauch spannt unter den frisch gebügelten „Rolling Stones“-T-Shirts, mit denen sie einem verraten, wann und wo sie die Band schon einmal live gesehen haben. Und sie sind kaufkräftig genug, um sich Tickets leisten zu können, die regulär zwischen 100 und 250 Euro kosten zu können. 22 000 sind gekommen. Die Eintrittskarten waren angeblich innerhalb von acht Minuten ausverkauft, die für das Konzert am 19. Juni in Düsseldorf nach 25 Minuten.

Mick Jagger war beim ersten Auftritt in Berlin gerade 22 Jahre alt geworden, gewöhnte sich langsam an die Rolle, das größte männliche Sexsymbol der Welt zu sein. Heute ist er Urgroßvater und scheint sich nur noch in den Liedern zurück zu den wilden 1960er Jahren zu sehnen. Zum Beispiel in dem von einem dunklen Bass angetriebenen „Out Of Control“, in dem er singt: „I was young / I was foolish / I was angry / I was vain / I was charming / I was lucky“ – Ich war jung, ich war dumm, ich war eitel, ich war charmant, ich hatte Glück.

Doch zum Nostalgietrip wird der Auftritt am Dienstag trotzdem nicht. Dazu vertiefen sich die Stones zu sehr in ihr Repertoire, lassen kein Jahrzehnt ihrer langen Karriere aus. Und da gibt es eben nicht nur Blues, Rock’n’Roll und Beat (besonders schön: eine scheppernde Version von „Get Off Of My Cloud“), sondern auch Discoanleihen („Miss You“), soulige Balladen („Waiting For A Friend“) und das Rock-Großwerk „Sympathy Fo r The Devil“, bei dem die Bühne in roten Nebel getunkt wird und Mick Jagger im feuerroten Umhang erscheint.

Beim ersten Auftritt in Deutschland seit sieben Jahren sind die Stones in Höchstform. Anders als bei der „Bigger Bang“- Tournee, im Rahmen der die Rolling Stones im August 2006 auch in Stuttgart Station machten, und bei der vieles nicht so klappte – einschließlich der Ticketverkäufe. Es könnte deshalb nicht nur mit Nostalgie zu tun haben, dass die Stones diesmal lieber auf der Waldbühne als im erheblich mehr Publikum fassenden Olympiastadion nebenan auftreten.

Trotzdem: So unternehmungslustig wie jetzt beim Auftritt in Berlin klangen Mick Jagger (70), Keith Richards (70), Ron Wood (67) und Charlie Watts (73) schon lange nicht mehr. Kaum ein Song an diesem Abend, der nicht wie eine Durchhalteparole, eine Ode auf das Immerweiter daherkommt. Und dass die Rolling Stones – anders als vor 49 Jahren – den Song „Last Time“ nicht im Programm haben, ist bestimmt kein Zufall. Das letzte Mal? Kommt nicht infrage.