Der junge Winfried Kretschmann (im ild rechts) gehörte zum Umfeld der Riedlinger Popgruppe Power Play. Foto: Verlag

Nach 1968 träumte Baden-Württemberg vom Untergrund. Jazz, Folk und Rock gediehen im Ländle. Ein neues Buch portraitiert den kulturellen Umbruch - am Montag feierte es im Theaterhaus Premiere.

Stuttgart - Man kann wirklich von einer Generation der Glückskinder sprechen“, sagt Werner Schretzmeier. Er ist heute Leiter des Stuttgarter Theaterhauses, war damals Leiter der Manufaktur in Schorndorf. Er spricht von jener Generation, die das Jahr 1968 und den kulturellen Wandel, der ihm folgte, bewusst und gestaltend erleben durfte. Christoph Wagner, Journalist, geboren 1956 in Balingen, hat ein Buch über diese Zeit und ihre Musik geschrieben. „Träume aus dem Untergrund: Als Beatfans, Hippies und Folkfreaks Baden-Württemberg aufmischten“, so heißt es. Erschienen ist es im Silberburg-Verlag Tübingen, vorgestellt wurde es am Montagabend im Theaterhaus.

Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann kam zu dieser Buchpräsentation, diskutierte mit Christoph Wagner, Werner Schretzmeier und dem Silberburg-Lektor Thorsten Schöll. Nicht ohne Grund: Kretschmann selbst war Teil der Szene, die im Buch beschrieben wird, wenn auch nur am Rande: „Ich war da eher ein Mitläufer“, sagt er. „Ich war sozusagen die politische Ausfransung der Musikbewegung. Bei manchen lief das Politische unter anderem, die haben Musik gemacht – bei mir war es umgekehrt. Ich bin sicherlich kein berufener Experte.“

Ozzy Osbourne in Schorndorf

Christoph Wagner jedoch hat ein Buch geschrieben, das – aufwendig recherchiert und höchst informativ – nicht nur ein Bild der Musikszene im Lande, sondern auch ein Bild des Landes zeichnet. Frederic Rabold, damals schon aktiv in der baden-württembergischen Jazzszene, hat seine Band anlässlich der Präsentation dieses Buches neu formiert, spielt auf der Bühne des Theaterhauses, während Musiker und Publikum von einst auf der Leinwand vorübergleiten: Die Folkfreaks, die sich in Tübingen versammelten; die vielen kleinen Clubs, die regionalen Bands, die in ihnen auftraten; ihre britischen Vorbilder, die sich manchmal, noch auf der Schwelle zum Ruhm, in die süddeutsche Provinz verirrten. Pink Floyd , die mit Werner Schretzmeier Musikvideos drehten; Black Sabbath, die sich in den Schorndorfer Winterschnee warfen. Dass Ozzy Osbourne und seine Band dort landeten, war dem damals noch legeren Beziehungsgeflecht in der Musikszene geschuldet – und dem Zufall: „Schorndorf“, sagt Werner Schretzmeier, „lag auf dem Weg nach Birmingham.“

Wagners Buch erzählt viele Geschichten. Es erzählt von Rockgiganten aus dem Ausland, die in kleinen Hallen spielten, von den Rolling Stones, die in die Stuttgarter Messe kamen und die vor allem von Schretzmeier angegriffen wurden: Altamont war noch in guter Erinnerung, die Stones standen für Zynismus und Kommerz. In der Stuttgarter Messe kam es zum Eklat; die großen Rockkonzerte wurden fortan in Böblingen und Sindelfingen veranstaltet - bis in die 1990er Jahre hinein sollte das so bleiben.

Wagner widmet ihnen allen eigene Kapitel: Den Jazzern, die ersten Widerstand gegen die Konformität leisteten; den Clubs, die aus dem Boden schossen, in Schorndorf, Tübingen, Esslingen, Reutlingen, in vielen ländlichen Gemeinden; den Schwabenrockern Wolle Kriwanek und Schwoißfuaß; den zig Bands, die Beat und Krautrock spielten; der Reutlinger Initiative „Gig“, die ehrenamtlich Konzerte organisierte. In Tübingen rümpfte man derweil die Nase, wollte von Rockmusik nichts wissen, fand erst den Anschluss, als in der zweiten Hälfte der 1970er politisch motivierte Barden in der Universitätsstadt zusammenströmten.

Die kleinen Revolutionen auf dem Land

Eine studentische Bewegung, das war die neue Musikkultur jener Zeit nicht, erzählt Werner Schretzmeier: „Die Studenten hatten wir gefressen.“ Die Aktiven, sagt er, das waren junge Menschen, die in die Lehre gingen, ganz normale Dinge taten. Und draußen, auf dem Land, dort, wo die schwäbische Rockmusik spielte und jeder im Dorf bald wusste, was der andere am Abend zuvor getan hatte, fanden die wirklichen kleinen Revolutionen statt: „Da hatte man Zivilcourage schon nötig.“

Auch Schorndorf war ländlich: „Dort gab es viele Leute, die rechtschaffen ihrer Arbeit nachgingen, und die sich von Leuten, wie wir es waren, im höchsten Maße gestört oder auch bedroht fühlten.“ In Baden-Württemberg gab nur eine Partei den politischen Ton an: „Die haben sich immer als erste empört, und das war super!“ Heute spricht Schretzmeier in den wärmsten Tönen von der CDU. Die Reibung, sagt er, tat gut, war inspirierend: „Es war so einfach, dagegen zu sein. Wenn du irgendwas gemacht hast, wenn du bloß die Zunge rausgestreckt hast, dann warst du schon der König!“

Alles hat sich gewandelt. Am Montag sitzen viele, die mit dabei waren, im Theaterhaus und blicken zurück. Sie sind längst angekommen, haben die Gegenwart mitgestaltet. Die Zeiten zu vergleichen, sagt Schretzmeier, das sei vielleicht ein wenig ungerecht, jenen gegenüber, die diese Aufgabe noch vor sich hätten. Für Kretschmann indes sind die „Träume aus dem Untergrund“ noch ein Beleg für schwäbische Schaffenskraft, schwäbischen Charme: „Hier hat der große Umbruch nicht nur zu einer Konsumkultur geführt“, sagt er, „sondern auch zu einer Tätigkeitskultur.“ Die Bands aus dem Ländle, das waren für ihn die Mittelständler des Rock, des Jazz und des Folk: „Heute würde man sagen: Das waren die Start-ups der Musik.“

Christoph Wagner: Träume aus dem Untergrund. Als Beatfans, Hippies und Folkfreaks Baden-Württemberg aufmischten. Silberburg-Verlag, Tübingen. Gebunden, 180 Seiten. 24,90 Euro.