Jean Renoir und Lotte Reiniger, Meisterin des Scherenschnitts, die im Schönbuch heimisch wurde Foto: Stadtmuseum Tübingen

Micky Maus konnte noch nicht mal laufen, da ließ Lotte Reiniger bereits ihren Prinzen Achmed über die Leinwand schweben. Sie schuf 1926 den ersten abendfüllenden Trickfilm. Die Meisterin des Scherenschnitts verbrachte ihren Lebensabend am Rande des Schönbuchs.

Micky Maus konnte noch nicht mal laufen, da ließ Lotte Reiniger bereits ihren Prinzen Achmed über die Leinwand schweben. Sie schuf 1926 den ersten abendfüllenden Trickfilm. Die Meisterin des Scherenschnitts verbrachte ihren Lebensabend am Rande des Schönbuchs.

Stuttgart/Tübingen - Man sieht nur ihre Hände. Und weiß plötzlich, dass man das Wort fingerfertig für Lotte Reiniger erfunden hat. So flink führt sie die Schere durch die schwarze Pappe, dass das Auge kaum folgen kann. Den Papageno schneidet sie aus, Mozarts Vogelfänger. Für einen Trickfilm zu Mozarts Oper „Zauberflöte“. Unglaubliche 40 Bilder pro Takt schuf sie, damit die Bewegungen flüssig und rhythmisch schienen. Mit diesem kurzem Film von Reinigers Händen und ihrer Kunst empfängt und verblüfft die Ausstellung im Tübinger Stadtmuseum die Besucher. Reiniger selbst würde das Erstaunen ob ihrer Fingerfertigkeit wohl selbst erstaunen. Hat sie doch gesagt: „Meine Hände gehen schon so lange mit der Schere um, dass sie von ganz allein wissen, was sie tun müssen.“

1899 in Berlin geboren, setzte sie ihren Kopf durch, behauptete sich in einer Welt, die für sie als Frau eine demütige Rolle vorgesehen hatte, und wurde die Pionierin des Trickfilms. Sie arbeitete mit Paul Wegener, Jean Renoir, Kurt Weill, Bertolt Brecht. Sie lebte in London, in Rom – und in Dettenhausen am Rande des Schönbuchs. Im Alter war sie zu dem Pfarrersehepaar Alfred und Helga Happ gezogen, starb dort 1981. Die Happs erbten ihren Nachlass, deshalb ist er im Stadtmuseum in Tübingen zu sehen.

Eine glückliche Fügung. Ist in der Region Stuttgart doch eines der Zentren des Trickfilms entstanden, mit der Filmhochschule in Ludwigsburg, zahlreichen Studios und natürlich dem Trickfilmfestival in Stuttgart. Dort wird im übrigen der Lotte-Reiniger-Förderpreis vergeben. Das klingt zunächst einmal komisch, da ehrt man Talente, die am Computer Pixel um Pixel zusammenbasteln, mit einem Preis, der den Namen einer Schattenspielerin und Scherenschneiderin trägt. Vergangene Zeiten, sollte man meinen. Altes Handwerk, entschwunden so wie das Stellmachen, das Seifensieden und das Schriftsetzen.

Doch das Interesse wächst, sagt Evamarie Blattner, die sich fürs Stadtmuseum Tübingen um Reinigers Nachlass kümmert. „Ihre Filme werden auf der ganzen Welt gezeigt“, in Teheran und Paris war die Ausstellung zu Gast. Und wer ihre Filme anschaut, der erkennt, diese Kunst wirkt niemals altbacken oder verstaubt. Doch wer war diese Frau, die von Anfang an ihrem Traum gefolgt ist?

Als Kind geht sie auf eine reformpädagogische Schule, die sie mit einem Dickkopf und Selbstvertrauen ausstattete. Zum Entsetzen ihrer Eltern, die partout nicht einsehen wollen, dass ihre Tochter Schauspielerin wird. Doch der Widerstand ist vergebens. Und auch der berühmte Mime Paul Wegener ist chancenlos. Reiniger: „Er war der Mann, der weiß, was ich gerne wissen möchte, und ich zerbrach mir den Kopf, wie ich an ihn herankommen könnte.“ Gesagt, getan. Die 17-jährige Lotte Reiniger geht 1916 ans Deutsche Theater, nimmt dort Unterricht und schleicht sich hinter die Bühne, um von den Schauspielern Scherenschnitte anzufertigen. Wegener fällt das junge Mädchen auf, er ist begeistert vom neuen Medium Film, nimmt sie in sein Team auf.

Sie weiß sich durchzusetzen und wie man die Männer zu nehmen hat. „Man musste nur heulen, dann hörten die auf“, sagte sie rückblickend. Man darf annehmen, all zu viele Tränen braucht sie nicht vergießen. Schnell verschafft sie sich Respekt. Sie gestaltete mehrere Vorspänne von Reinigers Filmen, gründet 1919 das „Institut für Kulturforschung“, ein Trickfilmstudio. Dort entwickelt sie aus ihrer Kenntnis der Schattenspiele und mit ihren Scherenschnitten die ersten Silhouettenfilme. Mit ihrem späteren Ehemann Carl Koch dreht sie ihren ersten Film „Das Ornament der verlorenen Herzens.“ Es folgen Märchenfilme und gar ein Werbestreifen für Nivea.

Die Zeiten sind hart, die Mark verliert rasant an Wert. So kommt der Bankier Louis Hagen auf die Idee, er könne sein Geld doch auch Trickfilmkünstlern überlassen, bevor es ohnehin nur noch bedrucktes Papier sei. Er mietet ein Atelier in Potsdam und fördert Reiniger und Koch. Drei Jahre lang arbeiten die Eheleute an einem abendfüllendem Film. Lotte Reiniger schneidet die Hintergründe und die Hunderte von Figuren, beschert ihnen Gelenke und macht sie so beweglich. Sie fotografiert sie, verschiebt sie, fotografiert sie wieder. Auf einem Tricktisch, dessen Herstellung sie so beschreibt: „Du nimmst Mutterns besten Tisch, sägst ein Loch rein, legst eine Glasplatte darauf, nimmst Scherenschnitte und Butterbrotpapier, und schon hast du einen Tricktisch.“ 24 einzelne Aufnahmen ergeben eine Sekunde Film. Sie nehmen 250 000 Bilder auf, 100 000 verwendeten sie für den Film „Prinz Achmed“. Und lassen so Achmed fliegen, Skorpione und Schlangen kämpfen, Haremsdamen tanzen.

Die Premiere ist im Juli 1926 in der Comédie des Champs-Elysées in Paris, dank ihres Freundes, des Regisseurs Jean Renoir. Mit ihm drehen Koch und Reiniger Filme, mit Brecht und Weill reisen sie nach Südfrankreich, um an der Dreigroschenoper zu arbeiten. 1935 wandert das Ehepaar nach London aus, was nach Stationen in Rom und Berlin 1949 zur endgültigen Heimat wird. Dort arbeitet sie als Illustratorin für Bücher und Zeitungen und macht Filme für die BBC. 1963 stirbt Carl Koch. Lotte Reiniger ist tief getroffen. Sie widmet sich wieder den Schattenspielen und lernt so auch das Ehepaar Happ kennen. Schließlich steht sie mit einem Koffer vor der Tür und sagt, sie bleibt jetzt „für immer“ in Dettenhausen. Dort ist sie auch begraben. Ihre Kunst jedoch lebt weiter.