Feel-Good-Rapper MC Fitti aus Berlin stilisiert sich als „#Selfiegott“ Foto: Forum NRW

So viel Wandel war nie. In Düsseldorf regen zwei Ausstellungen zur Auseinandersetzung mit dem Vergänglichen an. Der chinesische Künstler Song Dong bildet rücksichtlos wachsende Mega- Citys mit Süßigkeiten nach. Die Selfie- Manie unserer Zeit ist Thema der Schau „Ego Update“.

Magie des Sammelns

Das Sammeln oder vielmehr Anhäufen von Sachen folgt Elias Canetti zufolge einem elementaren Antrieb des Menschen. Und sollten einmal künftige Archäologen die Erde nach Spuren der Menschheit untersuchen, werden die fruchtbarsten Erkenntnisse weniger aus Skelettresten gewonnen als vielmehr aus den tausenderlei Gerätschaften, die wir hinterlassen. Zhao Xiangyuan, die Mutter des chinesischen Konzeptkünstlers Song Dong, dem die Düsseldorfer Kunsthalle eine umfangreiche Retrospektive widmet, muss das geahnt haben. Was die um etwaigen künftigen Gebrauch besorgte Frau in rund 50 Jahren gehortet hat, nämlich mehr als zehntausend Haushaltsgegenstände aller Art, steht jetzt als riesige Installation im Mittelpunkt der Ausstellung und spiegelt unter dem Titel „Waste Not“ ein halbes Jahrhundert chinesischer Alltagskultur.

Stets sprechen die Aktionen, Videoaufnahmen oder Installationen Song Dongs aber beides an, persönliche wie gesellschaftliche und politische Verhältnisse. Multimedial und konzeptionell arbeitet der 1966 in Peking geborene Künstler erst, nachdem der Aufstand auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 ein blutiges Ende fand. Eigentlich hatte er an der Universität in Peking klassische Malerei studiert. Jetzt nimmt der Besucher zum Beispiel an einer Fahrt auf dem Fahrrad durch Peking teil. Zwei auf dem Lenker montierte Videokameras haben die Tour durch alte Gassen, vorbei an der Bibliothek, am Sitz der Partei, durch den Beihai-Park und die Verbotene Stadt bis zum Tian’anmen-Platz festgehalten.

Wandel und Zerstörung

Besonderes Augenmerk gilt dem galoppierenden Wandel der Megastädte, dem alte Wohnviertel gnadenlos zum Opfer fallen. Symbolisiert wird deren Verschwinden etwa durch aus Süßigkeiten und Keksen errichtete Miniaturstädte, über die Ausstellungsbesucher herfallen dürfen, ja sollen, bis alles aufgezehrt ist („Eating the City“, 2015). „Der Besucher rezipiert die Arbeit psychisch wie psychisch“, heißt es im Info-Heft zur Ausstellung. In ähnlicher Absicht zerknüllt der Künstler Papierbögen, die für einen kurzen Moment darauf projizierte Schanghaier Straßenszenen zeigen („Crampling Shanghai“, 2000).

Besonders innig verschränken sich bei „Touching My Father“ (1997–2011) persönliche und politische Belange. Als Konterrevolutionär verurteilt, hatte Song Shiping, Song Dongs Vater, geraume Zeit in einem Umerziehungslager zu verbringen. Im Videofilm sieht man die virtuelle Hand des Sohns das Gesicht des Vaters streicheln, was in der auf körperliche Distanz programmierten chinesischen Kultur einiges heißen will. Doch alsbald löst sich das Antlitz des Vaters auf. Ähnliches geschieht bei „Touching 100 Years“ (2010). Auf hundert Monitoren sind charakteristische Bilder für jedes Jahr zu sehen. Wieder nähert sich den Szenen ab und zu eine Hand, worauf sie in einem Wellenmuster unkenntlich werden. Nähert man sich Vergangenem, entzieht es sich. Der Vergänglichkeit gilt seit 1995 ein Ritual des Künstlers. Er vertraut seine Gedanken einem Stein an, auf den er in klassischer Kalligrafie, allerdings mit Wasser, schreibt. Kaum sind die Zeichen verdunstet, sind mit den Worten die Gedanken verflogen.

Sehnsucht nach dem Ich

Aus der Furcht vor der Vergänglichkeit erklärt sich vielleicht auch der Hype um das Selfie. Vergessen zu werden muss dem Geltungsbedürfnis, das dem Ego eigen ist, verhasst sein. Da kommt die Chance wie gerufen, sich mit Hilfe digital geknipster Selbstbildnisse und deren Verbreitung im Netz Aufmerksamkeit zu verschaffen. Kein Zufall auch, dass sich gerade das NRW-Forum in Düsseldorf der aufregenden Materie annimmt. Laut einer Erhebung des „Time“- Magazins ist Düsseldorf die Selfie-Metropole Deutschlands. So geht das Haus am Ehrenhof mit Fug und Recht unter dem Titel „Ego Update – Die Zukunft der digitalen Identität“ der Frage nach, wie die Vorstellung von uns selbst, so formuliert es Kurator Alain Bieber, „durch die digitale Kommunikation geprägt“ werden wird.

Digitale Realitäten

Möglichkeiten gibt es zuhauf. Feel-Good-Rapper MC Fitti aus Berlin stilisiert sich als „#Selfiegott“ in Gestalt einer Bronzebüste mit ausgestrecktem Selfie-Arm. Oliver Sieber, Düsseldorfer, macht „Character Thieves“ dingfest, indem er in aller Welt Leute fotografiert, die sich kostümieren und in ein zweites Ich schlüpfen („Cosplayers“). Guido Segni (Italien) sammelt „Crowdworker“, die sich für wenig Geld auf digitalen Plattformen mit dem Stinkefinger präsentieren. Andreas Schmidt zeigt prominente Künstler wie Warhol oder Chuck Close neben ihren Arbeiten, hat damit aber Aufnahmen von Michael Wolf gefakt („Fake Fake Art“), die ihrerseits Kunstfälschungen zum Thema hatten. Der britische Magnum-Fotograf Martin Parr lässt sich, wohin er auch reist, in Fotostudios fotografieren. Die Inszenierung bleibt Sache des Studios. Eins davon hat den Künstler zum Beispiel ins Maul eines Weißen Hais geschleust.

Das Sammeln bleibt

Landsmann Robbie Cooper setzt Online-Spieler neben ihr „ALTER EGO“, also neben die Avatare der User. Laturbo Avedon ist quasi selbst ein Avatar und „lebt im WWW“. „Jedes Mal, wenn ich einen neuen Online-Account anlege“, sagt sie, „durchlebe ich einen Prozess der Charaktererstellung.“ Der in Paris lebende US-Künstler und Hacker Evan Roth fahndet mit dem „digitalen Fingerabdruck“ nach subversivem Missbrauch im Netz. Evan Baden geht der Neigung junger Mädchen nach, sich von ihrem Kinderzimmer aus in lasziver Pose zu präsentieren. Solche Bilder werden in Windeseile „geteilt“.

Alison Jackson aus London nutzt die magische Anziehungskraft von „Celebrities“ und fabriziert im Studio die intime Fiktion einer Angela Merkel, die sich von François Hollande auf der Bettkante sitzend mit Croissants füttern lässt: „C’est l’amour“ (2013). Prominenz gewinnt auch, wer die höchsten Gebäude der Welt erklimmt wie Vitaliy Rasklov & Vadim Makhorov aus Kiew und Nowosibirsk. Ihre Selfies richten sich auf ihre Füße, wenn sie auf den Rest der Welt tief unter sich schauen. Dass die Netzgemeinde sowieso massenhaft Fuß-Selfies teilt, ist Erik Kessels aus Amsterdam aufgefallen. Für seine Düsseldorfer Arbeit „My Feet“ hat er Tausende davon gesammelt.

„Song Dong“: Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4. Bis zum 13. März. Öffnungszeiten Di bis So 11 bis 18 Uhr. „Ego Update – Die Zukunft der digitalen Identität“: NRW-Forum in Düsseldorf, Ehrenhof 2. Bis zum 17. Januar. Öffnungszeiten Di bis So 11 bis 20, Fr bis 22 Uhr.