Die Küferstraße ist eine der ältesten Gesch Foto: Horst Rudel

Sie ist ein Juwel der Stadt Esslingen – und zugleich ihr Sorgenkind: Die alte Küferstraße versprüht Charme trotz Leerstand.

Esslingen - Es gibt Produkte, die kommen noch ohne Innovation aus. Im Schaufenster der alteingesessenen Esslinger Bäckerei Mohr, gleich am Eingang zur Küferstraße, liegen auf Tortenspitze kleine Ensembles aus Flachswickel, Streuseltaler, Florentiner mit Bitterschokolade, Linzerschnitten und andere Klassiker der Backkunst. Jede Sorte ist etikettiert mit handgeschriebenen Schildchen, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen, so wie die orangefarbenen Blumenkacheln an den Wänden. Was nicht heißt, dass hier die Uhren stehen geblieben sind. „Koi Zeit, wirklich net, der muss glei zom Arzt“, winkt Rosemarie Mohr ab, stellvertretend für ihren 71-jährigen Gatten Bernd, dem Dienstältesten der Küferstraße. Scheinbar unbeteiligt steht er neben ihr an der Theke. „Wenn der net gsond bleibt, dann kenna mer glei zumacha“, sagt Frau Mohr noch. So simpel ist ihre Antwort auf die Frage, welche Zukunft die Küferstraße hat.

Küferstraßen sind überall. In jeder Stadt ringen in den zweitklassigen Lagen inhabergeführte Läden mit der Übermacht des Internets und der großen Ketten. Sie kriegen am ehesten die Folgen der Hektik zu spüren, die unsere Gesellschaft befallen hat. Nicht alle können mit dem Wandel der Zeit Schritt halten. Lebendige Geschäftsstraßen beruhigen sich zu Wohngebieten. Ladenbesitzer legen nach sorgenreichen Jahrzehnten die Arbeit nieder – ohne Nachfolger, ohne Ersparnisse. Laut dem Einzelhandelsverband ist die Zahl der Fachhändler ohne Filialnetz seit 2001 um mehr als ein Drittel geschrumpft. Auch der Esslinger Küferstraße in der östlichen Altstadt wurde schon öfters eine düstere Zukunft prophezeit. Noch hält sie sich wacker.

Das ist sie ihrer Historie auch schuldig. Schon im Mittelalter herrschte auf der Küferstraße geschäftiges Treiben. Sie gehörte zu den bedeutendsten Verkehrswegen des damaligen Reichs. Stattliche Wirtshäuser wie der Goldene Adler boten den betuchteren Händlern aus Flandern Kost und Logis an. Schuhmacher kümmerten sich um deren Laufwerk, Hufschmiede um das der Pferde und Esel. Metzger und Bäcker verpflegten die Viehhändler, das fahrende Volk und, wenn es sein musste, auch die hereinfallenden Franzosen. „Die Verbindung von Leben und Arbeiten hat die Küferstraße über Jahrhunderte geprägt“, sagt der Esslinger Stadtarchivar Joachim Halbekann. Bis heute strahle sie eine „Kontinuität städtischen Lebens“ aus. Diese Qualität werde wieder zunehmend geschätzt. Zumindest unter Wohnungssuchenden.

Nichts ist gerade

Es ist später Samstagvormittag, die Rushhour der Flaneure. Auf der Inneren Brücke, der Edelmeile der Stadt, drängeln sich die Passanten. Auf der 200 Meter entfernten Küferstraße ist der Strom so dünn, dass man Zeit hat, einen Blick auf jeden Einzelnen zu werfen. Ein älterer Herr wandert vor der Boutique Schick und Schnack mit seinem Terrier auf und ab, vermutlich hält sich seine Frau noch in der Umkleide auf. Der Besitzer vom griechischen Feinkostladen Marthopoulos drapiert seine Ware. Eine Mutter bugsiert ihr quengelndes Kind in den Kinderwagen und schiebt ihn angestrengt über das holprige Pflaster.

Nichts ist gerade in dieser Straße, weder der Asphalt, noch die Gebäude, nicht einmal der Klang der Kirchenglocken. Die schmalen Fachwerkhäuser schmiegen sich aneinander, als wollten sie sich gegenseitig vorm Umkippen bewahren.

In ihren Schaufenstern entdeckt man Waren, die für eine andere Zeit gemacht zu sein scheinen – antike Nähmaschinen von Singer, offene Gewürze und Nüsse, die abgewogen werden, Stoffbahnen, Zelluloid-Puppen aus den 30er Jahren. In den Läden geben dicke Holzbalken die Aufteilung der Räume vor. Maßgeschneiderte Regale sind unumgänglich. Mit einer ordentlichen Dämmung sind die wenigsten gesegnet. Kein Problem für die Vietnamesin Thanh Tihikim Doanh vom Asiashop, die auch noch im Frühjahr ihre Daunenweste trägt. „Ich ziehe einfach mehrere Schichten übereinander an.“

Zuhören und Teetrinken

Die Iranerin Shahla Schroetel vom Nüssle-Laden hat sich bewusst für das verwinkelte Fachwerk entschieden. „Diese Enge, die Nähe zu den Kunden und zu den anderen Händlern, sie bringt Freundlichkeit in unser Zusammenleben“, sagt die schöne schwarzhaarige Frau. „Und gehören nicht seit jeher Gewürzläden in die Altstadt?“ Seit drei Jahren mischt sie Kräuter und Nüsse in Haus Nummer 5. Für ihre Kunden hat sie gegenüber der Kasse ein Sofa zum Verweilen und Teetrinken aufgestellt. „Manche erzählen mir von ihrer Einsamkeit oder ihren Geldsorgen“, sagt Shahla Schroetel. Ihnen zuzuhören, das gehöre zu ihrem Selbstverständnis als Händlerin. Obwohl es ihr an treuen Kunden nicht mangelt, schreibt sie rote Zahlen. „Ursprünglich wollte ich meinen Gewinn krebskranken Kindern im Iran zukommen lassen“, sagt sie. Doch aus dem Profit wurde bisher nichts, die Miete verschlingt alles.

Ketten wie H&M oder der Drogeriekonzern DM lassen sich hier nicht blicken, sie bevorzugen das mehrstöckige Kaufhaus am Bahnhof, das ES. Viel zu klein sind die Ladenflächen in der Küferstraße, viel zu lästig wäre das Prozedere, mehrere Geschäfte zu einer Fläche zusammenzufassen. Man müsste sich mit den Eigentümern an einen Tisch setzen, sagt die City-Managerin Manuela Deufel. Dazu kommen die Vorschriften vom Denkmalamt. Der einzige namhafte Filialist in der Küferstraße war seinerzeit Schlecker. Die Händler in der Nachbarschaft denken wehmütig an ihn zurück. Der brachte Laufkundschaft. Nun belegt das Wettbüro Tipico die Nummer 48.

Das Tipico mögen die Händler nicht. Das triste Schaufenster, an das auch noch zwei Leerstände angrenzen, ist der Schandfleck der Küferstraße. Der Straßenabschnitt lässt ahnen, wie leicht sich die Aura eines Viertels zerstören lässt. Der Vermieter lebt im Ausland. Er habe, so munkelt man, nur ein Auge darauf, dass die Miete pünktlich fließe. Lieber sind den Händlern da noch die sterilen Finanzinstitute und Immobilienhändler, die sich peu à peu von außen ins Stadtzentrum vorgearbeitet haben. Ingrid Bläschke, langjährige Inhaberin eines Optikergeschäfts am Ende der Küferstraße, hat ihren Einzug vom Laden aus verfolgt: „Da drüben war früher der Fischladen Veit, da standen die Leute mittags Schlange“, erzählt sie. Der Geruch ist verflogen, die Allianz residiert nun in dem Haus. Auch der Bäcker Spieth sei einem Finanzinstitut gewichen, sagt Blaschke. „Und da drüben, wo der Immobilienmakler seine Angebote aushängt, sah man früher Dirndl im Schaufenster. Mit Wohnungen verdient man halt grad richtig gut.“

Früher durften die Autos vorfahren

Eine profunde Kennerin der Küferstraße ist Margarete Dürr. Seit ihrem zwölften Lebensjahr ist die kleine Dame hier zu Hause. Ein paar Jahrzehnte lebte sie in Haus Nummer 24, dann in der 13, dann in der 38, jetzt ist sie wieder zurück in der Nummer 24, ganz unterm Dach. Die knarzenden Treppen schafft sie ohne längere Verschnaufpause, trotz ihrer 94 Jahre. Auch das Gedächtnis funktioniert noch ganz ordentlich. „Eine gute Geschäftsstraße war das“, sagt sie. Früher durften die Autos noch vorfahren. Die Damen kauften ihre Mieder beim Wäsche- und Kurzwarenladen Luickert, die Herren ihr Werkzeug in der Eisenwarenhandlung Brodhag, das Waschmittel bezogen sie beim Seifenfabrikanten Koch, und für den Lebensmitteleinkauf standen gleich drei Bäckereien und drei Metzgereien zur Auswahl. Der Einkauf war damals ein gesellschaftliches Ereignis, für das man sich fein machte. „Heute fahre ich zum Marktkauf nach Zell, solange ich noch fahren darf“, sagt Dürr. „Da ist alles beinander.“ Nur für die Häkelwolle nehme sie noch Sonderwege in Kauf. „Die hole ich bei Frau Spatz in Oberesslingen.“

Ulrike Ehrmann will nicht mehr hören, dass früher alles besser war. Sie ist Buchhändlerin mit Leib und Seele, eine bescheidene, in sich ruhende Frau mit Kurzhaarschnitt und Designerbrille. Wer sie in ihrer Wohnung im zweiten Stock besuchen möchte, muss sich durch ihren schmalen Laden schlängeln. Vor ihrer kleinen Kasse im Erdgeschoss stehen dicht gedrängt Taschen voller Bücher. „Diese ist für eine Schule, diese für eine Stammkundin, diese geht an ein kleines Büro.“ Sie kann sich nicht beklagen, dabei ist die Dichte an Buchläden in der Altstadt ungewöhnlich hoch. Sie sei nun mal mit der Zeit gegangen, sagt sie. Internetauftritt, Online-Verkauf, sogar eine Facebookseite hat sie sich einrichten lassen. Außerdem veranstaltet Ehrmann Autorenlesungen, bietet neben Büchern auch Kunstkarten und andere Spezialitäten wie Wein und Olivenöl an.

Auch ihr Nachbar zur Rechten weiß, wie es heutzutage zu schaffen ist. Jörg Mayer hat früher ein Café betrieben, jetzt verkauft er Fahrräder. Sein Laden ist so klein wie die anderen, viele Exemplare zum Ausprobieren sind nicht da, doch dafür besitzt Mayer Expertise für E-Bikes. Die kommen gut an bei den Esslingern, die zum Großteil auf der Halbhöhe wohnen. „Der Bike-Doctor macht’s“ – diesen Ruf hat er sich hart erarbeitet. Für Behinderte baut er die Räder so um, dass sie trotzdem durchstarten können. Und wer seinen maroden Drahtesel nicht mehr zum Laden transportieren kann, bei dem kommt er persönlich vorbei. Noch am späten Abend sieht man den Bike-Doctor in seinem Laden stehen, wenn er seine Pannenseminare hält.

Es gibt noch mehr von den Zähen, den Schaffigen, sie bilden das Rückgrat der Küferstraße. Eine kleine Händlergemeinschaft haben sie gegründet, um ihre Interessen bei der Stadt durchzusetzen. Demnächst bekommen sie Bänke, Pflanzenkübel und historische Straßenlaternen – „zwölf Jahre lang haben wir darum gekämpft“, sagt Erika Mayer-Jüstel, die Sprecherin der Initiative. Alle paar Monate schreiben die Händler kleine Artikel über sich und bündeln diese in den Wolfstornachrichten. Die nächste Ausgabe soll zum 20. Erdbeerfest erscheinen – eine weitere Marketing-Aktion, bei der Besucher mit Erdbeerkuchen, Bowlen und anderen Köstlichkeiten in ihre Gasse gelockt werden. Unvergessen ist auch das Guerillahäkeln vor drei Jahren: Die Ladenbesitzerin Bettina Kallen kam auf die Idee, für eine Säule vor ihrem Laden ein wollenes Gewand zu häkeln. Bald darauf steckten auch Straßenlaternen, Poller, Fahrräder und ein Brunnen in wollenen Umhüllungen. „Da zogen Scharen durch unser Straße“, erinnert sich Erika Mayer-Jüstel.

Zu Hochzeiten hatten sie 32 Mitglieder, gerade sind es nur 24 und bald nur noch 23. Nicht Bäcker Mohr scheidet aus. Obwohl die Behörden jüngst ein paar Eigenheiten seiner Backstube bemängelt haben, hat er sich entschieden weiterzumachen. Dieses Mal trifft es den Nüssle-Laden von Shahla Schroetel. Die Vermieter wollten die Miete nicht weiter absenken. „Vielleicht bin ich auch irgendwie selbst schuld“, sagt sie. Wieder reicht sie eine Schale Nüsschen und bietet Tee an. „Zumindest aber bin ich mir treu geblieben.“