Der Bildungs- und Familienforscher Wassilios Fthenakis ist Präsident der Bildungsmesse Didacta. Foto: dpa

Erzieher und Grundschullehrer sollten langfristig gemeinsam ausgebildet werden, sagt der Bildungsforscher Wassilios Fthenakis. In Deutschland sorgten verschiedene Philosophien auf den einzelnen Bildungsstufen immer noch für Ungerechtigkeit.

Erzieher und Grundschullehrer sollten langfristig gemeinsam ausgebildet werden, sagt der Bildungsforscher Wassilios Fthenakis. In Deutschland sorgten verschiedene Philosophien auf den einzelnen Bildungsstufen immer noch für Ungerechtigkeit.

Stuttgart - Herr Ftheankis, nach der letzten Didacta 2011 in Stuttgart hat Grün-Rot die Regierung übernommen. Derzeit haben wir heftige Diskussionen, etwa über den künftigen Bildungsplan.
Als Mitglied des Beirats für den Bildungsplan 2015 habe ich einen guten Einblick – auch in die Auseinandersetzungen zum Thema gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Ich finde positiv, dass der Bildungsplan gegenüber Vielfalt und Diversität aufgeschlossen ist. Und dass er auf Kompetenzen ausgerichtet ist. Kompetenzen sind aber nichts, was ein Kind hat oder nicht hat, sondern was es immer neu erwirbt – im Umgang mit Mitschülern, Lehrern und anderen Menschen. Ein verändertes Verständnis von Bildung und Kompetenzen muss im Zentrum der Reformen stehen.
Welche Schritte sind dazu nötig?
Eine Bildungsreform, die nachhaltig sein will, muss den gesamten vorschulischen Bereich einschließen. Kompetenzen werden aber nur zu einem Teil in Kindergarten und Schule gestärkt, die wichtigste Rolle spielt die Familie. Ich wünsche mir, dass Baden-Württemberg Familien hilft, im Alltag und im Dialog mit dem Kind Bildungsprozesse zu stärken. Eltern sollten ermutigt werden, mit Kindergärten und Schulen enger in Kontakt zu treten und mit ihnen Bildungspartnerschaften zu schließen.
Wie kann das konkret aussehen?
Sie vereinbaren, das Kind zu stärken. Eltern nutzen die Interaktion mit ihm, um das Überzeugungssystem – du bist kompetent, geliebt, wertvoll und du kannst Verantwortung tragen – zu fokussieren. Das stärkt das Selbst des Kindes. Dasselbe tut auch die pädagogische Fachkraft. Und beide sprechen und reflektieren regelmäßig darüber, wie sich das Kind entwickelt, welche Erfolge sie sehen und wie es unterstützt werden kann.
Seit Jahren wachsen die Anforderungen an Erzieherinnen. Braucht es dazu eine andere Erzieherinnenausbildung?
13 Bundesländer haben sich auf einen gemeinsamen Rahmenplan zur Qualifizierung von Erzieherinnen geeinigt, der die Persönlichkeitsentwicklung und die Fachkompetenzen stärken will. Die Universität Bremen hat unter meiner Leitung ein Konzept dafür entwickelt, wie man diesen Rahmenplan umsetzen kann, Bayern und Hessen wollen dieses übernehmen. Ich lade Baden-Württemberg ein, dass wir mit Hilfe des Bundes Umsetzungsstrategien erproben. Mittel- und langfristig müssen wir die Qualifizierung der Fachkräfte insgesamt aber neu ausrichten. Sie müssen institutionsübergreifend ausgebildet werden, damit sie die Bildungsprozesse von der Geburt bis zum Ende der Grundschule begleiten können.
Warum sollte die Trennung von Erziehern und Grundschullehrern aufgegeben werden?
Das ist notwendig, um den Kindern Brüche zu ersparen. In Deutschland sorgen verschiedene Philosophien auf den einzelnen Bildungsstufen immer noch für individuelle und soziale Ungerechtigkeit.
Bildungserfolg und Herkunft sind in Deutschland so eng verknüpft wie in kaum einer anderen Industrienation. Wie lässt sich das ändern?
Trotz aller Anstrengungen in den vergangenen Jahren haben wir kaum Verbesserungen zu verzeichnen. Das System produziert Ungerechtigkeit mit den vielen Übergängen, die Kinder zu bewältigen haben vom Kindergarten bis zur Ausbildung oder zum Studium. Diese müssen wir reduzieren. Zudem haben wir ein politisches Problem durch 16 unterschiedliche Bildungspläne.
Wollen Sie in die Länderhoheit eingreifen?
Es spricht alles dafür, dass die Bundesländer einen gemeinsamen hochwertigen Bildungsplan entwickeln. Sie können dann bei der Umsetzung miteinander wetteifern – da sind Kreativität und Innovation gefragt. Ohne Bund lässt sich die Ungleichheit im Bildungswesen nicht verringern – das Kooperationsverbot muss deshalb schnellstens abgeschafft werden. Wir brauchen zudem eine Bundesevaluationsagentur, die dafür sorgt, dass die Qualität erhalten bleibt, und ein Qualitätsgesetz, das die Rahmenbedingungen für hohe pädagogische Qualität festlegt.
Ein schwieriges Thema ist die Inklusion, der gemeinsame Unterricht von Kindern ohne und mit Behinderungen.
Inklusion ist keine Technik, sondern eine Philosophie. Sie kann nur gedeihen, wenn man die theoretischen Grundlagen des Bildungssystems und die Architektur verändert. Die Bildungsziele müssen neu definiert, das System geöffnet und Kooperationen mit anderen Bildungsorten so etabliert werden, dass jedes Kind unabhängig von seiner Herkunft eine faire Chance bekommt. Eine kosmetische Operation bringt nichts, so wenig wie die Integration gebracht hat.
Viele Schulen fühlen sich überfordert und klagen, ihnen werde immer mehr aufgehalst.
Ein Drittel der Kinder im Land haben einen Migrationshintergrund, Vielfalt ist Realität. Wir müssen lernen, nicht nur die Probleme, sondern auch die Chancen zu sehen. Ein Land, dessen Zukunft nur über die Qualität der Bildung gesichert werden kann, muss sehr verantwortungsvoll mit diesen Fragen umgehen. Ich halte die Debatte über den Lehrerstellenabbau für höchst fragwürdig. Wir sollten den Schülerrückgang nutzen, um endlich die Ungerechtigkeiten zu beseitigen.