Die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei ist mehr als angespannt: Foto: Güsten, dpa

Ein deutscher Buchladen im Herzen Istanbuls ist seit Jahrzehnten das inoffizielle Hauptquartier der deutsch-türkischen Freundschaft in der Stadt am Bosporus. Die Politik des türkischen Präsidenten hinterlässt auch dort Spuren.

Istanbul - Eine hölzerne Freitreppe führt hinauf zum Obergeschoss, an der Wand steht in großen Lettern ein Goethe-Zitat: „Wer Bücher liest, schaut in die Welt, und nicht nur bis zum Zaune.“ Darunter sitzt an seinem Schreibtisch der deutsche Buchhändler von Istanbul, Thomas Mühlbauer. Von hier aus dirigiert Mühlbauer nicht nur seinen Laden – sein Schreibtisch ist auch Kommunikationszentrum der deutschen Gemeinde in Istanbul und erste Anlaufstelle für deutsche Neuankömmlinge in der Stadt wie für Kontakt suchende Türken. Jeder, der sich in Istanbul für deutsche Kultur interessiert, ist schon durch Mühlbauers Tür getreten.

Der Buchladen am Istiklal-Boulevard im Herzen der Stadt ist seit Jahrzehnten das inoffizielle Hauptquartier der deutsch-türkischen Freundschaft in Istanbul. Nach frischem Brot duftet es im Laden. Am Tresen rechts vom Eingang gibt es deutsche Brötchen und sogar Brezeln zu kaufen. Linkerhand ziehen sich vollgestopfte Bücherregale bis zur Decke hoch, dahinter sind Stühle um einen antiken Esstisch gruppiert, der mit Bücherstapeln beladen und mit einem Strauß frischer Wiesenblumen dekoriert ist. Gerne sitzen die Besucher hier bei Mühlbauer, denn der 50-jährige Buchhändler legt eine freundliche Konzentration auf sein Gegenüber an den Tag. Ein Zimmer zur Untermiete, ein Teilzeitjob, ein Partner zum Konversationsunterricht – Thomas Mühlbauer kann oft mit einem Tipp helfen oder zumindest mit dem Verweis auf das Anschlagbrett neben der Tür, das mit handschriftlichen Angeboten und Gesuchen gespickt ist. In letzter Zeit bleiben die deutschen Anfragen aber aus.

Manager und Mitarbeiter deutscher Firmen in Istanbul lassen sich versetzen

Nicht nur deutsche Touristen bleiben Istanbul fern, seit die Stadt im vergangenen Jahr von Bombenanschlägen und vom Putschversuch erschüttert wurde, die deutsch-türkischen Beziehungen in den Sturzflug gegangen sind und die Bundesregierung die Reisehinweise für die Türkei verschärft hat. Die Zahl der deutschen Erasmus-Studenten an türkischen Hochschulen halbierte sich schon im vergangenen Jahr und sinkt beständig weiter, deutsche Wissenschaftler kommen fast gar nicht mehr zum akademischen Austausch in die Türkei. Manager und Mitarbeiter deutscher Firmen in Istanbul lassen sich versetzen, deutsche Lehrer kehren der Stadt den Rücken.

Das Interesse der Deutschen und Türken aneinander findet seinen messbaren Ausdruck am Schwarzen Brett der Buchhandlung, wo deutsche wie türkische Interessenten nach Partnern für ein „Tandem“ suchen, wie dieser Trend im Sprachenlernen heißt – je ein deutscher und türkischer Tandempartner bringen einander dabei ihre Sprache bei. Bis vor zwei, drei Jahren hielten sich die Gesuche noch die Waage, erinnert sich Mühlbauer: „Da waren es noch jeweils 50 Prozent Deutsche und Türken, die hier einen Sprachlernpartner suchten; heute sind es 90 Prozent Türken und zehn Prozent Deutsche.“

Wie viele Deutsche am Bosporus leben, weiß niemand genau

Das Interesse aneinander ist sehr einseitig geworden. Traurig findet das Thomas Mühlbauer, der die Buchhandlung vor 25 Jahren von seinem Vater übernommen hat. Mühlbauer ist selbst in Istanbul geboren. Sein Vater Franz wollte nach der Entlassung aus russischer Kriegsgefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nach Persien, um dort ein neues Leben aufzubauen. Unterwegs blieb er in Istanbul hängen, wo er in einer Buchhandlung eine Stelle fand und auch seine Braut, eine junge Deutsche, die dort arbeitete. Die Geschäfte florierten, und 1955 eröffnete Franz Mühlbauer die eigene Buchhandlung. Die Ehe war weniger beständig als der Laden: Seine Frau kehrte Ende der 70er Jahre nach Deutschland zurück und nahm die Kinder mit, den zwölfjährigen Thomas und seinen Bruder Josef. Bis dahin waren die Jungen in der Wohnung über dem Buchladen aufgewachsen, der an der Prachtstraße von Istanbul eine der besten Adressen der Stadt hat.

Damals war Istanbul noch kein 15-Millionen-Moloch, sondern eine überschaubare Stadt mit kompaktem Zentrum, in dem die deutsche Gemeinde dicht zusammen lebte, erinnert sich Mühlbauer. Der deutsche Kulturverein Teutonia, von deutschen Kaufleuten am Bosporus im 19. Jahrhundert gegründet, erfreute sich noch eines regen Vereinslebens und veranstaltete gesellschaftliche Anlässe aller Art. Heute sind die Deutschen in Istanbul weit über die Megametropole verstreut. Wie viele Deutsche am Bosporus leben, weiß niemand genau – „zwischen 5000 und 50 000“, schätzt Mühlbauer. Seit 1992 zählt er selbst wieder dazu. Sein Bruder überzeugte ihn damals, mit ihm zusammen die Buchhandlung zu übernehmen, die der Vater ihnen bei seinem Tod im Vorjahr hinterlassen hatte.

Die Sympathie der türkischen Cafe-Besucher ist ungebrochen

Thomas Mühlbauer gab seinen Job beim Straßenbau in Geilenkirchen auf und kehrte zurück an den Bosporus und in die Buchhandlung seiner Kindheit. Gute Zeiten hat er seither in Istanbul erlebt, auch wenn es ihm in seiner Ehe mit einer Amerikanerin nicht besser erging als seinem Vater: Auch sie kehrte in ihre Heimat zurück und nahm die Kinder mit. Der Buchladen aber florierte. Noch vor zwei Jahren erweiterten die Brüder die Buchhandlung um das Café im Obergeschoss, das mit seinen heimeligen Sitzgruppen zwischen hohen Bücherwänden sofort zum Lieblingstreffpunkt türkischer Studenten geworden und zu jeder Tageszeit gut gefüllt ist. Gulaschsuppe, Würstchen und Bienenstich stehen auf der Karte. Auch wenn die türkischen Besucher im Café heute weitgehend unter sich sind, bleibt ihre Sympathie für Deutschland ungebrochen – daran haben die markigen Sprüche auf Regierungsebene und in der Presse nichts geändert.

„Das geht vorbei“, sagt eine Studentin und winkt ab, die im Café über ihren Büchern sitzt. Die 27-Jährige ist Absolventin des deutschen Gymnasiums von Istanbul, das um die Ecke liegt und neben deutschen Schülern auch die Elite der türkischen Gymnasiasten ausbildet. „Alles nur Politik“, meint auch ein Künstler, der am Nebentisch zeichnet. „Die Bevölkerung interessiert sich nicht dafür.“ Diese Erfahrung machen auch die deutschen Kunden der Buchhandlung. Sicher werde man in jüngster Zeit öfter gefragt, warum Deutschland den Auslieferungsgesuchen der Türkei nicht entspreche und terrorverdächtige Türken schütze, erzählt ein junger Akademiker. „Aber die Leute beeilen sich immer zu versichern, dass ich nichts dafür könne.“

Seit zwei Jahren sinkt die Zahl westlicher Touristen in Istanbul

Ein Ehepaar, aufgrund dienstlicher Versetzung an den Bosporus erst ein paar Wochen hier, berichtet, dass sich schon mehrfach wildfremde Türken bei ihnen für die rüden Sprüche ihrer Staatsspitze entschuldigt haben. Eine junge Frau namens Duygu ist besorgt über den politischen Streit. Sie arbeitet in einem Hotel, wo früher die Hälfte der Gäste aus Deutschland kam. Heute gebe es dort keine deutschen Gäste mehr, erzählt die 28-Jährige. Seit zwei Jahren sinkt die Zahl westlicher Touristen in Istanbul, die Deutschen fallen als größte Besuchergruppe besonders ins Gewicht.

Das Ergebnis ist der Stadt bereits anzusehen: Sogar auf dem Istiklal-Boulevard, der Fußgängermeile von Istanbul, sind viele Geschäfte rings um die deutsche Buchhandlung verlassen und verrammelt, die Rollläden heruntergelassen und mit Graffiti besprüht. Dem Buchladen selbst schadet das Ausbleiben der deutschen Urlauber nicht unmittelbar, erzählt Mühlbauer. „Die Touristen haben sich höchstens die Namen unserer Türkei-Titel notiert, um sie dann zu Hause zu kaufen“, erzählt er.

In all den Jahren ist der Buchhändler noch nie angefeindet worden

Was der Buchhandlung aber schade, das sei der wirtschaftliche Abstieg: Geht es mit der türkischen Wirtschaft bergab, dann leidet auch die deutsche Buchhandlung. Bisher läuft der Laden noch, gehen deutsche Frauenzeitschriften und Kinderbücher über den Tresen und vor allem die deutschen Schulbücher, die das Kerngeschäft der Buchhandlung bilden. Von seinem Schreibtisch unter der Treppe blickt Thomas Mühlbauer auf das Kommen und Gehen im Buchladen. Zwischen Büchern, Blumen und Bienenstich wirkt es fast absurd, dass es gefährlich sein soll, hierherzukommen. In all seinen Jahren hier an der Hauptstraße von Istanbul sei er noch nie angefeindet worden, erzählt der Buchhändler, auch jetzt nicht. „Kein böses Wort – und das, obwohl wir hier auf dem Präsentierteller sitzen.“