In Berlin demonstrieren Türken gegen den Putschversuch in ihrer Heimat. Foto: dpa

Schon vor dem Putschversuch war das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara miserabel. In atemberaubender Geschwindigkeit driften jetzt auch die Gesellschaften auseinander - was noch alarmierender ist.

Ankara - Botschafter Martin Erdmann ist ein diplomatisches Schwergewicht, er vertrat Deutschland schon bei der Nato, seit knapp einem Jahr ist er der höchste Repräsentant der Bundesrepublik in Ankara. Deutschland und die Türkei sind wichtige Partner, gerade in diesen dramatischen Zeiten gäbe es viel zu besprechen. Das scheitert allerdings daran, dass niemand in der Regierung Erdmann noch empfängt. Seit dem 2. Juni ist der deutsche Botschafter kaltgestellt.

An jenem Tag beschloss der Bundestag die Völkermord-Resolution zu den Armeniern, der Streit darüber ist nur vorübergehend von der Tagesordnung verdrängt worden. Noch bevor er beigelegt werden kann, droht schon ein neuer Konflikt: Außenminister Mevlüt Cavusoglu fordert am Donnerstag im Sender CNN Türk die Auslieferung mutmaßlicher Gülen-Anhänger, die nach dem Putschversuch vom 15. Juli nach Deutschland geflohen sein sollen.

Seit dem Umsturzversuch hat die Entfremdung zwischen Deutschland und der Türkei noch zugenommen - nicht nur zwischen den Regierungen, sondern vor allem zwischen den Gesellschaften beider Länder, was noch alarmierender ist. Kaum zwei Länder auf der Welt sind so untrennbar miteinander verwoben, obwohl sie kulturell so unterschiedlich sind.

Mustafa Yeneroglu sieht es als seine Aufgabe, „Brücken zu bauen“ zwischen Deutschland, wo er aufgewachsen ist, und der Türkei, wo er seit einem Jahr für die Regierungspartei AKP im Parlament sitzt. Yeneroglu ist ein Vertrauter von Präsident Recep Tayyip Erdogan, der ihn im vergangenen Jahr zur Rückkehr in die Türkei drängte. Bis dahin lebte der heute 41-jährige Familienvater in Köln.

In Yeneroglus Seele schlagen zwei Herzen, eines für jedes seiner Heimatländer. Umso mehr schmerzt ihn, dass die Brücken zu kollabieren drohen und die Gräben immer tiefer werden. „Die antitürkische Stimmung hat in Teilen Europas einen traurigen Höhepunkt erreicht“, beklagt Yeneroglu - er beschreibt diese Stimmung als „irrational, oft feindlich, wenn nicht sogar als hasserfüllt“. Yeneroglu sagt, ihn erreichten immer mehr E-Mails von Türken in Deutschland, die in Erwägung zögen, die Bundesrepublik zu verlassen.

Massenfestnahmen dauern an

„Bis jetzt war ich glücklich, aber nun kommt mir jeder Bericht wie eine Beschimpfung meiner Persönlichkeit und meines Landes vor“, heißt es in einer dieser Mails, die Yeneroglu anonymisiert in Auszügen zur Verfügung stellte. Ein Schreiber fragt: „Meinen Sie auch, dass die Türken in Europa daran denken sollten, in die Türkei zurückzukehren? Oder sollten wir diese Rassisten bekämpfen?“ Resigniert der Ton einer weiteren Nachricht: „Wir sind weder hier zu Hause noch in der Türkei. Wir fühlen uns zu hundert Prozent türkisch, versuchen uns doch irgendwie als Deutsche zu fühlen und belügen uns selbst.“

Viele Türken - nicht nur Anhänger Erdogans - sehen sich und ihr Land nach dem Putschversuch völlig falsch dargestellt. Sie werfen deutschen Medien vor, den Widerstand der Zivilisten, die sich Panzern in den Weg stellten, bestenfalls am Rande gewürdigt zu haben. Dabei hätten diese Türken genau jene Demokratie mit ihrem Leben verteidigt, die die EU und Deutschland in Ankara immer wieder einfordern. Stattdessen sei sofort wieder der moralische Zeigefinger erhoben worden. Bundeskanzlerin Angela Merkel ermahnte Erdogan erst am Donnerstag wieder öffentlich zur „Verhältnismäßigkeit“.

Erdogan orientiert sich allerdings schon lange nicht mehr an der EU. Die Massenfestnahmen dauern an, mehr als ein Drittel der türkischen Generäle sitzt inzwischen in Untersuchungshaft, per Notstandsdekret lässt der Präsident in der Nacht zu Donnerstag Dutzende Medien schließen. Erdogan hält die drastischen Maßnahmen gegen mutmaßliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen für gerechtfertigt, weil es nach seinen Worten um das Überleben der Demokratie in der Türkei geht - die wiederum viele Deutsche längst abgeschrieben haben.

Die Regierung befindet sich nach eigenem Verständnis im Kampf gegen eine Terrororganisation, die alle staatlichen Instanzen unterwandert hat. Aus Sicht Ankaras sind die Gülen-Anhänger somit gefährlicher als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) - deren Kämpfer in Syrien und im Irak auch der Westen bombardiert.

Wie tief die Gräben sind, zeigt eine Umfrage des Instituts Yougov in Deutschland aus der vergangenen Woche. Mehr als 80 Prozent finden das Vorgehen Erdogans gegen Verdächtige unangemessen. Fast zwei Drittel der Befragten halten es sogar für wahrscheinlich, dass Erdogan den Putsch in irgendeiner Weise mit inszeniert haben könnte.

Großdemo in Köln am Wochenende

Ausgerechnet jene, die Erdogan Verschwörungstheorien unterstellten, kämen nun selber mit solchen Theorien um die Ecke, sagt Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin. Kalin vermutet dahinter klammheimliche Enttäuschung: darüber, dass der Militärputsch gescheitert ist. Nicht nur Kalin, den die Putschisten womöglich an die Wand gestellt hätten, auch AKP-Abgeordneten ist echter Ärger über die Verschwörungstheorie anzumerken. Ihre Gefühle werden nachvollziehbarer, steht man selber in dem von Putschisten bombardierten Parlament in Ankara.

Am kommenden Wochenende wird wieder zu beobachten sein, wie die türkische Politik auf deutsche Straßen überschwappt - in Köln werden 15 000 Pro-Erdogan-Demonstranten erwartet. Schon wird Kritik aus der Union daran laut, und schon argwöhnen AKP-Anhänger, in Deutschland solle die Versammlungsfreiheit wohl nur für Erdogan-Gegner gelten.

Neuen Sprengstoff birgt die Forderung nach einer Auslieferung von Gülen-Anhängern. Sollte Ankara darum offiziell ersuchen, ist das aus deutscher Sicht nicht nur wegen Foltervorwürfen von Amnesty International gegen die Türkei heikel. Dort wird seit dem Putschversuch zudem die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert. Sollte Berlin die Zusammenarbeit verweigern, könnte Botschafter Erdmann demnächst vielleicht doch wieder einen Termin bei der Regierung in Ankara bekommen - allerdings keinen, um den Diplomaten bitten würden: Gut möglich, dass er dann wieder ins Außenministerium einbestellt wird.