Szene aus „Der Zauberberg“ in Stuttgart Foto: Mirbach

„Der Zauberberg“ endet mit Beginn des Ersten Weltkriegs. Hundert Jahre später kommt der Roman auf die Bühne. Zu sehen war im Schauspielhaus allerdings nur eine Aneinanderreihung von Anekdoten über dekadente Sanatoriumsgäste.

Stuttgart - Liegestühle, Tische, ein Plattenspieler, ein Röhrenradio, ein Telefon. Ein aufgebocktes Gewächshaus, das mit einer Leiter zu erklimmen ist. Gerade noch standen Leute herum und diskutierten mit grüblerischen Mienen über Materialismus, Idealismus. Eine Frau (Marie Goyette) schimpfte auf Französisch. Eine kleine, an Magnetismus interessierte Frau mit Sonnenbrille (Maja Beckmann) fragte: „Ist eine Intelligenz zugegen?“ Da schaut plötzlich alles auf eine Lady mit langem blondem Haar (Manja Kuhl). Sie positioniert sich am vorderen Bühnenrand. Berichtet von „höllenhundhaft daherfahrendem Heulen“, einem Wald, welligem Ackerland. „Eine Landstraße läuft kotig, mit gebrochenen Zweigen bedeckt.“ In diesem erzählten Schreckensszenario kommt auch Hans Castorp vor – „des Lebens treuherziges Sorgenkind“ wirft sich jetzt auch in den Dreck. Nach sieben Jahren im Lungensanatorium im Luftkurort Davos musste er doch wieder runter ins Flachland. Der Erste Weltkrieg hat begonnen.

Es sind die letzten der 760 Seiten aus Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, die Manja Kuhl am Freitagabend im Stuttgarter Schauspielhaus mit trauerumflorter Stimme zitiert. Die Regisseurin Christiane Pohle beginnt mit dem Schluss, mit dem „Donnerschlag“-Kapitel. Sie stellt damit gleich klar, was sie dazu bewegt, sich dieses Romans überhaupt anzunehmen: zu zeigen, wie klein die Schrullen und Sorgen von Hans Castorp und den anderen Lungenpatienten im Luxussanatorium waren in Anbetracht des großen Krieges. Die Krankheit derer da oben ist ja nicht nur eine medizinische, sondern auch eine der Zeit. Dieser Dekadenzvorwurf ist freilich uralt, selbst der Erzähler in Thomas Manns Roman mokiert sich schon darüber, indem er die Figuren mit mehr oder weniger freundlicher Ironie behandelt.

Die Regisseurin wird in den folgenden zweieinhalb Stunden wenig Interesse an den Figuren entwickeln. Sie wird Hans Castorp (Paul Grill) in seiner Turnschuh-Schlurigkeit als Menschen von heute inszenieren, der die Menschen von damals bestaunt wie sonderbare, zeitvertrödelnde Wesen. Verzärtelte, morbide Bürger, die sich die Freiheit nehmen, nicht irgendwie produktiv am Leben teilzunehmen. Und um jeglichen schwelgerischen Ästhetisierungsverdacht zu vermeiden, kleidet Sarah Schittek die Figuren in möglichst unvorteilhaft geschnittene 70er-Jahre-Bonbon-Kostüme.

Doch auch die Kriegsszene ist kaum mehr als ein bedeutungheischendes Versprechen. Es kommt nichts mehr (außer einem abgegriffenen Kriegsbild zum Schluss: Donnerschlag mit Wolldecken, die vom Bühnenhimmel fallen). Es findet keine Konzentration aufs Philosophische, aufs Politische, auf die großen Themen des Romans statt. Die Theaterfassung von Pohle und den Dramaturgen Stephan Wetzel und Bernd Isele besteht aus Anekdoten, vorgeführt in sich mokierender Attitüde: Gruppenturnen, Einwickel-Choreografien für die Liegekur. Andreas Leupold als Hofrat Behrens spricht vom Gewächshaus aus wie ein Animateur auf einem Vergnügungsschiff die Tagesordnungspunkte im Sanatorium ins Mikro. Maja Beckmann plappert als Frau Stöhr aus Bad Cannstatt über 28 Fischsoßen.

Stets ins Lächerliche tendierend, verharren die Schauspieler zu Standfiguren, lauschen gelangweilt der Musik, welche Marie Goyette als Zeremonienmeisterin auflegt. Eine Position, die im Roman Hans Castorp innehat. Er hört Schubert, Wagner und liebt Opern wie „Aida“ oder „Carmen“, weil er da immer irgendwelche Parallelen zu sich und Madame Chauchat findet. Und klar, auch die „Walpurgisnacht“ kommt dran, ganz ohne Liebelei geht es nicht. Also das Fest, bei dem Hans Castorp Madame Chauchat seine Liebe gesteht. Nackt, fiebernd, redet sich Paul Grill in Rage über die anbetungswürdige Schönheit des Körpers, zur Vollendung gebracht in Gestalt der etwas befremdet neben ihm stehenden Madame Chauchat (Manja Kuhl), die sich zur Versinnbildlichung einige Adern auf die Haut gemalt hat.

Dann wieder tragen die Figuren Requisiten umher, sprechen Text unmotiviert ins Telefon, werden selbst zu Requisiten. Etwa wenn Matti Krause das berühmte „Schnee“-Kapitel erzählt, in dem Hans die Erfahrung mit dem Nichts macht, während Paul Grill mit halboffenem Mund einfach nur neben ihm steht.

Die assoziativ gestaltete und doch konventionelle Best-of-Fassung diverser Motive und Themen ist kaum mehr als ein oberflächlicher Streifzug durch siebenhundert Seiten „Zauberberg“. Nichts von dem quälend abgründigen Teil des Romans, von dem „großen Stumpfsinn“, in dem die Figuren gefangen sind, der „großen Gereiztheit“, die zum Donnerschlag führt, zum Krieg.

Wirklich spannend wird der Abend dann aber doch noch einmal, wenn die Großdenker des Romans zum schauspielerisch brillanten Schlagabtausch antreten: Wolfgang Michalek als Humanist Settembrini, Paul Schröder als Jesuit Naphta. Settembrini, der die Aufklärung, die Freiheit und den Fortschritt feiert. Naphta, der Zweifler, der gegen Demokratie und Freiheit ätzt. Naphtha ist aus ideologischem Wahn zu Terror bereit, doch auch Kulturfreund Settembrini lässt sich davon anstecken. Hans, der diesem geistigen (und bald auch wirklich stattfindenden) Duell zu folgen versucht, beschwichtigt, es gehe doch nur um Gedanken.

Settembrini korrigiert ihn ein letztes Mal. „Das Ideelle birgt viel tiefere und radikalere Möglichkeiten des Hasses, der unbedingten und unversöhnlichen Gegnerschaft, als das soziale Leben.“ Dass abstraktem Hass durchaus Taten folgen können, sieht man täglich in den Nachrichten. Im Theater zeigt sich diese Aktualität des Textes nur selten. Von solchen gefährlichen Gedankenspielen hätte man gern mehr gesehen.

Nochmals am 29. 10., am 1., 8., 16., 29. 11. und am 10., 16. und 25. 12.(07 1 1/20 20 90)