„Ja!“ – ein Wort dominiert in den türkischen Zeitungen am Tag nach der Abstimmung. Doch der Vorsprung der Befürworter ist denkbar knapp. Foto: dpa

Trotz des knappen Ergebnisses dürfte Erdogan schnell daran gehen, die geplante Machtkonzentration in seinen Händen zu verwirklichen.

Ankara - die Stimmenauszählung lief noch, da klingelte bei Recep Tayyip Erdogan das Telefon. Der Anruf kam aus Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans. In der Leitung war Präsident Ilham Alijew. Dass er als erster Erdogan zum Erfolg bei dem Verfassungsreferendum gratulierte, war wohl kein Zufall, denn Alijew regiert in Baku mit einem ganz ähnlichen Herrschaftsmodell, wie es nun Erdogan einführt. Viele politische Gegner, Bürgerrechtler und kritische Journalisten sind in Haft. Alijew verfügt über eine nahezu unumschränkte Macht. Im Februar ernannte er seine Ehefrau Mehriban zur Vizepräsidentin. Auch Erdogan kann nach der neuen Verfassung seinen oder seine Stellvertreter selbst berufen. Das ist nicht die einzige Entscheidung, die in der Türkei mit Spannung erwartet wird.

Die parteipolitische Neutralität des Präsidenten fällt

Eine Personalie ist programmiert: Sobald der Oberste Wahlrat das amtliche Abstimmungsergebnis veröffentlicht, womit in etwa zwölf Tagen gerechnet wird, beginnt die Umsetzung der Verfassungsänderung. Als Erstes fällt das Gebot der parteipolitischen Neutralität des Präsidenten. Erdogan kann dann in die von ihm mitbegründete islamisch-konservative AKP zurückkehren und sich auf einem Sonderparteitag zum Vorsitzenden wählen lassen. Bereits am Montag rief Erdogan das Kabinett unter seinem Vorsitz zusammen. Ein Vorgeschmack auf seine künftige Rolle als Staatsoberhaupt und Regierungschef in Personalunion.

Mit der neuen Verfassung wird das Amt des Premierministers abgeschafft, seine Kompetenzen werden dem Staatspräsidenten übertragen. Der bisherige Regierungschef Binali Yildirim fügt sich in sein Schicksal. Er pries den Ausgang des Referendums als „Sieg der ganzen Nation“. Schon vor der Abstimmung hatte Yildirim versichert, es sei für ihn „kein Opfer, sondern eine Ehre“, für Erdogan auf sein Amt zu verzichten. Dazu soll es zwar erst in zweieinhalb Jahren kommen. Beobachter erwarten aber, dass Erdogan nicht so lange wartet, sondern die für den 3. November 2019 angesetzten ersten gemeinsamen Präsidenten- und Parlamentswahlen möglicherweise vorziehen wird.

Die Auslandstürken gaben den Ausschlag

Jetzt hätte Erdogan möglicherweise noch Chancen auf eine Zweidrittelmehrheit im nächsten Parlament, denn die Kurdenpartei HDP, deren Führung hinter Gittern sitzt, und die zerstrittene ultranationalistische MHP könnten an der Zehnprozenthürde scheitern. Erdogan ist in Zugzwang. Die Volksabstimmung ging keineswegs nach seinen Vorstellungen aus. Er wünsche sich mindestens 60 Prozent Jastimmen, hatte der Präsident im Wahlkampf erklärt. Tatsächlich zeigten die ersten Auszählungsergebnisse am frühen Sonntagabend eine Zustimmung von 62 Prozent. Doch je mehr Stimmzettel ausgezählt wurden, desto schneller schmolz der Vorsprung dahin. Am Ende blieben nur knapp 51,2 Prozent Jastimmen übrig – 0,6 Prozent weniger, als Erdogan 2014 bei seiner Wahl zum Staatspräsidenten erhielt. Ohne die Stimmen der Auslandstürken, die in Deutschland mit 63 Prozent, in den Niederlanden und Österreich sogar mit 71 und 73,5 Prozent für das Präsidialsystem votierten, wäre das Ergebnis noch knapper ausgefallen.

Besonders bitter für das Regierungslager: 17 von 30 Großstädten  stimmten mit Nein, darunter die Metropole Ankara. Auch in Istanbul, wo Erdogan 1994 seine politische Karriere als Oberbürgermeister begann und die AKP noch nie eine Wahl verloren hat, sagten die Wähler mit 51,3 Prozent Nein. Noch vor dem Ende der Auszählung reklamierten Erdogan und Yildirim den Sieg – wohl auch, um keine Zweifel an der Wahl aufkommen zu lassen. Erdogan sprach von einer „historischen Entscheidung“. Er rief das Ausland auf, die Wahl zu respektieren und auf „unsere Empfindlichkeiten“ Rücksicht zu nehmen, vor allem im Kampf gegen den Terrorismus.

Die Opposition spricht von Wahlbetrug

Aber es bleiben Zweifel. Die größte Oppositionspartei, die säkular und prowestlich ausgerichtete CHP, verlangt die Annullierung der Abstimmung. Es sei zu erheblichen Unregelmäßigkeiten gekommen, sagte der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu. Die prokurdische Oppositionspartei HDP sprach davon, bei der Abstimmung habe es  „Manipulationen in Höhe von drei bis vier Prozentpunkten“ gegeben. Erdogan gibt sich trotz des knappen Ausgangs und der Manipulationsvorwürfe unbeirrt. „Wir werden unseren Kurs mit größerem Tempo fortsetzen“, rief der Präsident am Wahlabend jubelnden Anhängern zu, die sich vor seiner Istanbuler Residenz am Bosporus versammelt hatten. Es gebe noch „viel zu erledigen in diesem Land“, sagte Erdogan – woraufhin die Menge den Ruf „Todesstrafe, Todesstrafe“ anstimmte. Erdogan bekräftigte, die Wiedereinführung der Todesstrafe werde jetzt „einer der ersten Schritte“ sein. Und wenn es dafür im Parlament nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit gebe, „dann machen wir eben auch dazu eine Volksabstimmung“.