Nach dem Angriff eines jungen afghanischen Flüchtlings sind viele Fragen offen. Foto: dpa

Ein junger afghanischer Flüchtling, intensiv betreut, mit Aussicht auf eine Lehrstelle, wird plötzlich zu einem brutalen Angreifer. Wahllos schlägt und sticht er in einem Zug um sich. Aber warum ist er so radikal geworden?

Würzburg - Romantische deutsche Idylle, glanzvoller Barock: Rothenburg ob der Tauber, Würzburg – die chinesische Urlauberfamilie aus Hongkong will das alles genießen wie so viele Millionen anderer Touristen auch. Doch dieser Montag Abend wird für die fünf zur Hölle. Es ist etwa 21 Uhr und noch längst nicht Nacht, da dreht in der Regionalbahn nach Würzburg plötzlich ein junger Mann durch. Eine Axt hat er bei sich, ein scharfes Messer auch noch. “Allahu akbar” ruft er, mindestens dreimal. Einmal ist das sogar noch auf dem Notruf zu hören, den eine Frau per Handy absetzt. Wahllos und mit voller Wucht, wie Augenzeugen nachher berichten, schlägt und sticht er auf die Fahrgäste im Zug ein, wie sie ihm in die Quere kommen, auf Kopf und Bauch. Blut spritzt herum, die Szene, so heißt es danach, “sah aus wie auf einem Schlachthof.”

Einer der zwanzig bis dreißig geschockten Passagiere zieht die Notbremse; im Würzburger Stadtteil Heidingsfeld kommt der Zug zum Stehen, der Angreifer türmt in Richtung Mainufer. Zwei Stunden später meldet die Polizei, sie habe ihn “auf der Flucht erschossen”.

Am Tag danach herrschen in Bayern Fassungslosigkeit und Entsetzen. Zum einen, weil alles sehr nach islamistischem Terror aussieht und der “Islamische Staat” auch noch die Verantwortung für den Anschlag übernimmt; zum anderen weil der Angreifer bis zu diesem Abend so ganz und gar nicht als ein potenzieller Terrorist galt. Im Gegenteil.

Eigentlich auf bestem Wege

17 Jahre, das erfährt man noch in der Nacht, war der Angreifer alt. Er stammte aus Afghanistan; vor ziemlich genau einem Jahr hat man ihn in Passau als “unbegleiteten minderjährigen Flüchtling” zum erstenmal registriert. Als solcher – einer von derzeit 15.000 in Bayern und 60.000 in Deutschland – kam er in ein Heim in Ochsenfurt, zwanzig Kilometer südlich von Würzburg: “Eigentlich eine besonders gute Wohnung”, wie Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sagt. “Und eigentlich”, fügt Landessozialministerin Emilia Müller hinzu, war der Junge dank “intensiver Betreuung” auf bestem Weg: Er machte ein Praktikum in einer Bäckerei und hatte Aussicht auf eine Lehrstelle. “Niemals”, so sagen Leute aus dem Ochsenfurter Helferkreis für Flüchtlinge, habe es “irgendeinen Vorfall” gegeben. “Niemals”, so zitiert Innenminister Herrmann “alle, die ihn bisher kannten”, habe der junge Mann auch nur den Hauch eines Verdachts erregt.

Nun gut, in dem Zimmer bei der Pflegefamilie in Ochsenfurt, wo der 17jährige seit zwei Wochen wohnte, fand die Polizei eine handgemalte IS-Fahne und ein T-Shirt “mit entsprechendem Aufdruck”. Aber Indizien, dass der junge Afghane tatsächlich mit irgendwelchen islamistischen Netzen in Kontakt stand, sind bis Dienstag Nachmittag nicht aufgetaucht. Zu dem IS-Video, in dem sich angeblich dieser Mann als Kämpfer “für eine heilige Sache” präsentiert, kann die Staatsanwaltschaft vorerst, am späten Dienstag Nachmittag, nichts sagen. Innenminister Herrmann zieht es seinerseits vor, von einer “einzelnen Wahnsinnstat” zu sprechen. Befragen aber kann auch er den Attentäter nicht mehr.

In dessen Zimmer gefunden haben die Ermittler auch einen Schreibblock mit einem offenbar schwierig zu interpretierenden Text in der afghanisch-pakistanischen Sprache Paschtu. Er lese sich “wie ein Abschiedsbrief an seinen Vater”, sagt Minister Herrmann; für Lothar Köhler vom bayerischen LKA steckt aber durchaus eine aufschlussreiche Passage drin: “Bete für mich”, schreibt der junge Mann da, “dass ich mich an diesen Ungläubigen rächen kann und dass ich in den Himmel komme.”

Warum radikal geworden?

Wie aber, in welchem Zeitraum, durch wen und vor allen Dingen: aus welchen Gründen ist der unauffällige, offenbar auf bestem Weg befindliche junge Mann zu einem derart brutalen Attentäter geworden? Lag es vielleicht, wie Köhler vermutet, an der Nachricht vom Tod eines Freundes in der Heimat, die der Afghane am Wochenende erhalten “und nach der er sehr viel telefoniert” hat?

Dass radikale islamistische Kreise prinzipiell auch minderjährige Zuwanderer anwerben, das steht fest – spätestens seit dem Brandanschlag vom April auf ein Gebetshaus der Sikh in Essen, für den Yussuf T. aus Gelsenkirchen und Mohammed B. aus Essen verhaftet worden sind – beide 16 Jahre alt. Andererseits: für das Messerattentat auf dem Bahnhof Grafing bei München vom Mai, bei dem auch “Allahu Akbar!” gerufen und ein Mann erstochen wurde, war ein geistig verwirrter Deutscher verantwortlich, der danach in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert worden ist.

Aber warum musste – das ist der zweite Teil der Geschichte aus dieser blutigen Dienstagnacht – der junge afghanische Attentäter überhaupt sterben? Bereits um zwei Uhr morgens, als noch ganz wenig klar war, hat die Grüne Bundestagsabgeordnete Renate Künast über Twitter gefragt, ob ihn die Polizei nicht auch hätte “angriffsunfähig” schießen, ihn also am Leben lassen können. Und sie hat sich bei der Polizeigewerkschaft (“Klugscheißerei!”) und in den sozialen Netzen einen derart gewaltigen Shitstorm eingehandelt, als dürfe man die Frage schon gar nicht mehr aufwerfen.

„Todesschüsse einzige Möglichkeit“

CSU-Minister Herrmann, der “keinerlei Zweifel an der Richtigkeit des Einsatzes” hegt, beantwortet sie so: Auf der Flucht aus dem Zug habe der Täter eine Spaziergängerin attackiert, und danach, als ihn jenes “wegen eines Drogen-Einsatzes zufällig in der Nähe” befindliche Sondereinsatzkommando gestellt habe, sei er mit “erhobener Axt” auch noch auf die Polizisten losgegangen. “Der war nur drei, vier Armlängen von den SEK-Beamten entfernt”, sagt am Nachmittag in Würzburg der Leitende Oberstaatsanwalt Bardo Backert: “In höchster Not hatten sie keine andere Möglichkeit.” Zwei Beamte schossen also, “in klarer, besonnener Handlung”, mindestens vier Mal.

Der dritte Teil der Geschichte, auch darauf hat Joachim Herrmann hingewiesen, könnte unter der Überschrift “Nizza 2” laufen: Wie dort, in der vergangenen Woche, kein Sprengstoff, keine Maschinenpistole, sondern ein simpler Lastwagen zur tödlichen Waffe für 84 Menschen geworden ist, so – sagt Landesinnenminister Herrmann – wäre auch in Würzburg “die Tatbegehung vorab nur extrem schwer zu verhindern gewesen. Lastwagen, Axt und Messer kann ich logischerweise aus der Gesellschaft nicht verbannen, sie sind zu jeder Tages- und Nachtzeit greifbar.” Und wer jetzt nur mehr Kontrollen an den Flughäfen verlange, “der verkennt, dass gegen die neuen Tatmittel auch weitere Kontrollen nichts helfen.”

Von den fünf chinesischen Touristen in der Regionalbahn kam nur einer unbeschadet davon. Die anderen sind schwer verletzt; zwei schwebten auch am Dienstag Nachmittag noch in Lebensgefahr.