Patrick P. wurde im Sommer 1999 ermordet. Foto: Polizei

17 Jahre nach dem Mord an Patrick P. aus Marbach ermittelt die Polizei die Täter. Die drei Männer sind selbst schon lange tot. Protokoll einer Suche, die ungewöhnlich war vom Anfang bis zum Ende.

Marbach - Kann man sagen, dass eine Mordermittlung ein passendes Ende gefunden hat? So wie man sagen kann, dass eine Geschichte ein gutes Ende genommen hat? Oder dass sich letztlich alles gefügt hat? Verbrechen sind dazu da, aufgeklärt zu werden. Täter müssen überführt und Fälle erledigt werden. Ob das Ende einer Ermittlung dem gesamten Fall angemessen erscheint, ist nichts, was relevant ist. Passend ist keine der Kategorien, in die Ermittler ihre Delikte einteilen. Normalerweise. Aber wenn man einen Fall hat, bei dem von Anfang an nichts normal ist, und auch der Schluss nicht, kann man das vielleicht schon sagen, dass im Mordfall Patrick P. die Ermittlungen ein passendes Ende gefunden haben. Wobei das ja schon zu den Besonderheiten dieses Falles gehört, dass er überhaupt ein Ende gefunden hat. 17 Jahre nachdem Patrick P. ermordet worden ist.

Das Ende beginnt am 20. Mai 2015. In der Sendung „Aktenzeichen XY“ wird ein Film gezeigt, der Szenen im Leben von Patrick P. bis zu jenem Tag nachstellt, an dem seine Familie in Marbach ihn zum letzten Mal gesehen hat. Das war am 31. Juli 1999. Im Film ist auch zu sehen, was die Polizei seither alles getan hat, um den Mörder zu finden. Und was die Familie unternommen hat, um ein Lebenszeichen von ihrem Patrick zu erhalten. Am Ende des Beitrags sagt der Moderator Rudi Cerne: „Liebe Zuschauer, wenn Sie auf irgendeine Weise zur Klärung des Verbrechens an dem 18-jährigen Patrick P. beitragen können, dann melden Sie sich bitte.“

Das FBI hilft bei den Ermittlungen

Beim zuständigen Polizeipräsidium gehen in den Tagen darauf exakt 134 Hinweise ein. Die zehn Mitglieder der Ermittlungsgruppe gehen jedem Tipp nach, keiner bringt sie entscheidend weiter – bis auf einen. Er kommt per Brief. Darin steht: „Ich glaube, dass ich weiß, wer Patrick P. getötet hat.“ Dazu nennt der Verfasser den Namen eines Mannes. Die Polizisten rufen den Absender an, vereinbaren einen Termin. Das Gespräch dauert keine zwei Minuten, und dann wissen sie: Dieser Mann sagt die Wahrheit! Den Kriminalisten ist klar, dass sie den Mord an Patrick P. doch noch aufklären können.

Als die Ermittlungen der Reutlinger Polizei im Spätsommer 1999 beginnen, gibt es noch keine Akte Patrick P., nur ein Skelett. Arbeiter im Pfullinger Stadtwald haben am 15. September jenes Jahres einen eingeschlagenen Schädel gefunden. Den dazugehörigen Körper entdecken die ausgerückten Suchmannschaften erst fünf Tage später in 400 Meter Entfernung. Außer Knochen und Zähnen gibt es nichts, was bei der Identifizierung des Unbekannten helfen könnte. Alles, was die Kriminalisten herausfinden, ist, dass der Tote zwischen 15 und 21 Jahre alt gewesen sein muss, etwa einen Meter siebzig groß war und an die 75 Kilo gewogen hat. Und sie finden heraus, wer er nicht war: Der Tote war kein Zivil- und kein Wehrdienstleistender, auch bei den Drückern und den Obdachlosen der Umgebung fehlt niemand. Überall forschen die Polizisten nach, in jedem Einwohnermeldeamt hängt das Phantombild des Toten, das das FBI in Amerika anhand des Schädels rekonstruiert hat. Doch nirgendwo taucht jemand auf, der so oder ähnlich aussieht, und nirgendwo wird jemand vermisst, auf den die Beschreibung des Knochenmanns passt.

Wer hat Patrick umgebracht?

Wobei das nicht korrekt ist. Die Eltern und Geschwister von Patrick P. vermissen diesen schrecklich und suchen ihn verzweifelt. Aber offiziell vermisst melden sie ihn nicht. Was sich jedoch erst 14 Jahre später herausstellt. Anders als der Rest der Familie geglaubt hatte, ist die Mutter – aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen – nie bei der zuständigen Polizei in Marbach gewesen. Als die Suchenden nach 14 langen Jahren endlich zusammenfinden, ist ein Rätsel gelöst, aber der Fall noch immer nicht geklärt. Die Frage nun lautet: Wer hat Patrick P. umgebracht?

Der Mann, der den Ermittlern den entscheidenden Hinweis gibt, lebt heute in Verhältnissen, die man als geordnet bezeichnen kann. Früher hatte er ein Problem mit Drogen. In dieser Szene traf er damals auch auf jenen Mann, dessen Namen er schließlich der Polizei übermittelte: Frank Braun*. In jener düsteren Zeit war es zu einem Disput unter den Männern gekommen. Frank Braun, so berichtete es der Zeuge, habe ihm damals sinngemäß gedroht: „Wenn du nicht spurst, dann geht es dir wie Patrick P.“ Daran erinnert sich der Mann, als er im Mai 2015 „Aktenzeichen XY“ anschaut. Und daran, dass Frank Braun immer in Begleitung zweier Freunde war: Volker Maus und einem Griechen.

In einem gewöhnlichen Fall hätten die Polizisten die Namen in ihre Computer getippt und kurz darauf alles gewusst, was es über die Männer zu wissen gibt. Dann hätten sich die Polizisten in ihre Dienstwagen gesetzt, wären zu den Adressen gefahren, die ihnen ihr Computer ausgespuckt hätte und hätten die Beschuldigten befragt. Was sagt Ihnen der Name Patrick P.? Wo sind Sie im Sommer 1999 gewesen? Kennen Sie sich im Pfullinger Stadtwald aus? Und so weiter. Doch in diesem Fall ist das alles nicht möglich. Die drei Männer, auch das weiß der Mann, der die Polizei auf ihre Fährte bringt, sind bereits tot. Gestorben an den Folgen ihrer Drogensucht, wie es Thilo Lauxmann ausdrückt, der Hauptsachbearbeiter des Falls.

Die Suche nach drei Toten

Über einen Toten kann ein Einwohnermeldeamt keine Auskünfte geben. Einträge im Polizeiregister verschwinden, wenn die Delinquenten nicht mehr existieren. Versicherungen, die Renten- oder die Krankenkasse bringen die Kommissare auch nicht weiter. Niemand bewahrt die Unterlagen eines Leichnams auf. Wie sich nähern? Die Ermittlungsgruppe übermittelt die Namen Braun und Maus an alle Einwohnermeldeämter des Landes – und findet einen Anfang. Im Rems-Murr-Kreis, dort, wo Frank Braun, Volker Maus und der noch unbekannte Grieche sich früher rumgedrückt haben, sind ein Ehepaar Braun und ein Ehepaar Maus gemeldet. Tatsächlich sind das, wie sich zeigen wird, die Eltern von Frank und Volker. Was für ein Glück. Von „dem Griechen“ kennen die Polizisten lange nur den Spitznamen, der bringt sie nicht weiter. Bis sie einen steinalten Ordner entdecken, der wie durch ein Wunder noch nicht geschreddert wurde. Darin finden sie vergilbte Meldungen über Drogentote. Eine handelt von Vasilli Krates aus dem Waiblinger Raum. Das könnte passen! Wieder sind die Einwohnermeldeämter gefragt. Wieder geben sie einen Treffer im Rems-Murr-Kreis preis. Wieder erweist sich der ermittelte Krates als ein Angehöriger des gesuchten Vasilli. Seine Eltern, ergeben die Recherchen, sind bereits gestorben. Es geht voran.

Man muss sich das vorstellen: Da versuchen Menschen ein möglichst normales Leben zu führen, das möglichst wenig verschattet wird von den Erinnerungen an die Vergangenheit. Ein drogensüchtiges Kind zu haben ist ja nichts, was schön ist. Da gibt es viel Streit, viel Misstrauen und schrecklich viel Angst. Und, in diesen Fällen, am Ende Trauer. Dann steht eines Tages die Polizei vor der Türe und zertrümmert den mühsam erarbeiteten Frieden. Indem sie mitteilt, dass der eigene Sohn womöglich ein Mörder war. Dass die Vergangenheit noch schlimmer war, als sie sich ohnehin schon angefühlt hat. Thilo Lauxmann und seine Kollegen wären nicht überrascht gewesen, wenn die Angehörigen sie beschimpft hätten oder ihnen Vorwürfe gemacht und die Zusammenarbeit verweigert. „Aber“, sagt der Kriminaloberkommissar, „das lief alles ganz sachlich.“ Über die Eltern von Frank Braun und Volker Maus und den Verwandten von Vasilli Krates finden die Ermittler weitere Gesprächspartner. Freunde von einst, Partner von damals, Geschwister. An die 30 Vernehmungen führen sie, nach und nach entsteht aus vielen Puzzleteilen ein Bild.

„Man muss ihn sich als Monster vorstellen“

Frank Braun, Volker Maus und Vasilli Krates haben sich in der Waiblinger Drogenszene kennengelernt. Alle drei sind früh an Rauschgift geraten, sind gleich mit Heroin eingestiegen. Ihre Freundschaft währte über Jahre und war eng. Die Männer sind so gut wie täglich zusammen gewesen. Wer von ihnen gerade ein Dach über dem Kopf hatte, ließ die anderen bei sich wohnen. Volker Maus und Vasilli Krates haben eine Ausbildung absolviert und zunächst auch gearbeitet. Aber sie sind zunehmend abgedriftet. Frank Braun hingegen war von Anfang an auf dem falschen Weg. Einen erkennbaren Grund dafür gab es nicht. „Es hätte auch anders laufen können“, sagt Thilo Lauxmann, der sehr zurückhaltend von den Erkenntnissen der Ermittlungsgruppe berichtet. Wenn er aber von Frank Braun erzählt, klingt er so: „Man muss ihn sich als Monster vorstellen!“

Frank Braun war brutal gewalttätig. Er saß mehrere Jahre im Gefängnis, weil er jemanden so übel zugerichtet hatte, dass das Opfer deshalb fast gestorben wäre. Er war hemmungslos und abartig. Er hat alles an Drogen eingeworfen, was er kriegen konnte, und das in rauen Mengen. Bei seinen sadomasochistischen Sexspielen spritzte häufig Blut. Sein Verhalten, so schilderten es unisono alle Gesprächspartner, war jenseits jeglicher Norm. Egal, wem die Ermittler die Frage „Würden Sie ihm einen Mord zutrauen?“ stellten, bei jedem lautete die Antwort entschieden: „Ja!“ Thilo Lauxmann und seine Kollegen würde es nicht wundern, wenn Frank Braun für weitere ungeklärte Todesfälle in Stuttgart verantwortlich wäre. Die Nachforschungen laufen.

Im Spätsommer 1999 trennen sich die Wege der drei. Volker Maus und Vasilli Krates gehen nach Spanien. Den genauen Abreisetag können die Kommissare nicht rekonstruieren, aber gewiss ist: Die zwei Männer haben ihre Heimat verlassen, kurz nachdem im Pfullinger Stadtwald ein Skelett gefunden worden war. Und zwar so kurzfristig und so „Hals über Kopf“, dass sich die Angehörigen damals extrem darüber gewundert haben.

Ein paar Puzzleteile werden immer fehlen

Über die Zeit in Spanien ist nicht viel bekannt. Vasilli Krates ist nicht lange dort geblieben. Als er im Jahr 2001 an einer unfreiwilligen Überdosis Heroin starb, war er bereits wieder im Rems-Murr-Kreis. Er wurde 38 Jahre alt. Frank Brauns Leben endete 2002, auch mit einer unfreiwilligen Überdosis. Er wurde 29 Jahre. Volker Maus ist nicht aus Spanien zurückgekommen. Als er 2009 ebenfalls an den Folgen einer unfreiwilligen Überdosis gestorben ist, war er 43 Jahre alt. Er ist in Spanien begraben.

Patrick P. muss ein umgänglicher Mensch gewesen sein. Seine Angehörigen und Freunde von damals beschreiben ihn als sympathisch und relativ zurückhaltend. Er legte Wert auf gute Kleidung und ein gepflegtes Äußeres. Wie konnte es passieren, dass der Junge aus Marbach auf die drei Junkies aus dem Rems-Murr-Kreis traf?

Die Wege der vier kreuzen sich im Stuttgarter Homosexuellenmilieu. Patrick P. hält sich regelmäßig dort auf. Die Ermittler haben herausgefunden, dass er schwul war. Aber ob er in seiner Orientierung bereits ganz sicher war oder noch am Ausprobieren, das können sie nicht mit Gewissheit sagen. Patrick P. nimmt Geld und Geschenke von älteren Männern, aber auf den Strich, da sind die Kommissare sicher, geht er nicht. Am Abend des verhängnisvollen 31. Juli 1999 sind auch Frank Braun, Volker Maus und Vasilli Krates mal wieder in Stuttgart unterwegs. Im Bereich des Planetariums stoßen sie auf einen jungen Mann, den sie um Geld anhauen. Für ihren nächsten Schuss. Der junge Mann ist Patrick P., und irgendwas geht bei diesem zufälligen Zusammentreffen so daneben, dass Patrick P. am Ende tot ist. Die Männer laden die Leiche in ihren eierschalenfarbenen Einser-Golf, brettern nach Pfullingen und verscharren Patrick P. im Wald. So ist es gewesen. Oder ganz anders? Vielleicht haben die Junkies ihr Opfer vorsätzlich getötet. Haben sich die Männer gar nicht in Stuttgart getroffen, sondern in Pfullingen? Sind sie gemeinsam auf die Alb gefahren? Ist Patrick P. nicht am 31. Juli ums Leben gekommen, sondern später? Auf diese Fragen können die Ermittler keine Antworten finden. Diese Puzzleteile werden immer fehlen.

Die Angehörigen der Täter sollen geschützt werden

Daran aber, dass Frank Braun, Volker Maus und Vasilli Krates die Mörder von Patrick P. sind, gibt es für sie keinen Zweifel. Bei der Leiche im Pfullinger Stadtwald hat die Polizei damals eine Sonnenbrille gefunden, die so speziell gestaltet war, dass es davon keine zweite geben kann. Diese Brille gehörte eindeutig Frank Braun. Genaueres kann Thilo Lauxmann nicht preisgeben. So wie er auch nichts über die anderen Gegenstände sagen kann, die am Fundort sichergestellt und nun den drei Toten zugeordnet wurden. Zum Schutz ihrer Angehörigen. Niemand soll ihre Identität erraten können.

Jahrelang hat die Polizei ein Opfer ohne Namen beschäftigt, dann haben die Kriminalisten drei Täter gefunden, von denen es keine Spuren mehr gab. Doch, womöglich kann man das sagen: Der Fall Patrick P. hat ein passendes Ende gefunden.

* die Namen der drei Täter sind geändert.