Foto: Gabriela Liivamägi/Theater Vanemuine

Zum Fellbacher Saisonauftakt bearbeitet das Ensemble aus Tartu in Estland Literatur- und Filmklassiker.

Fellbach - Kenner der Literatur- und Filmhistorie waren am Montagabend klar im Vorteil: Zum Auftakt der diesjährigen Theatersaison in der Schwabenlandhalle hatte das Kulturamt die Ballettformation des Theaters Vanemuine – 1870 gegründet und somit das älteste Theater Estlands – nach Fellbach gelotst.

Die zwei jeweils gut dreiviertelstündigen Einakter spielen in den 1920er und 1950er Jahren: Zum einen in der tänzerischen Umsetzung von F. Scott Fitzgeralds 1925 erschienenen Roman „Der große Gatsby“ (allerdings auch er bereits mehrfach verfilmt, so etwa mit Robert Redford). Nach der Pause folgt der Ausflug in den Jet Set von Rom, in Anlehnung an Federico Fellinis Film „La dolce Vita“.

Vor allem im ersten Teil ist es den gut 900 Zuschauern im Hölderlinsaal nicht immer möglich, der Geschichte zu folgen

Vor allem im ersten Teil ist es den gut 900 Zuschauern im Hölderlinsaal nicht immer möglich, der Geschichte zu folgen. „Die Mädchen waren glamourös, die Männer reich und die Partys wild“, so beschreibt Choreograf Silas Stubbs die in „Gatsby“ sezierte Jagd nach dem Rausch und dem „amerikanischen Traum“ in den sogenannten Goldenen Zwanzigern. Selbst mit der vagen Erinnerung an die Lektüre des Romans vor circa 30 Jahren fällt es etwas schwer, hier die Konstellation der Hauptfiguren Jay Gatsby und dem Verlangen nach seiner großen Liebe Daisy Buchanan auszumachen.

Klar allerdings ist recht schnell: Hier wird gefeiert, als ob es kein Morgen gäbe. Die Tänzer, zumeist in schwarzen oder weißen Nadelstreifenanzügen gekleidet, umschwirren mal allein, mal in der Gruppe die in silbern oder golden schimmernde Minikleider gehüllte Damenwelt. Offenkundig geht es weniger um die spezielle Liebesgeschichte des Hauptpaares, sondern, unterstützt durch die nach Duke Ellington entwickelten Jazzklänge mit schneidenden Bläsersoli, um das allgemeine Lebensgefühl. Mal giert ein Männerquintett nach der unnahbaren Schönheit, mal packen die Männer kräftig zu und lassen vier Frauen wie Windmühlenflügel vor sich kreisen.

Das ganze Leben ist eine Party? Zumindest im Rom der 1950er Jahre ist es nicht wesentlich anders als in den Golden Twenties an der amerikanischen Ostküste. Das süße Leben in den Straßen und Gassen – auf diesem Laufsteg haben die zahleichen Paparazzi eine unfassbare Fülle an Motiven, an Schönheiten und äußerst wichtigen Persönlichkeiten, die sie mit ihren großen Fotoapparaten abschießen können. Mittendrin der melancholische Reporter, dem allerdings im Laufe der Nacht beim permanente Lechzen nach der nächsten heißen Klatschstory aus der Welt der Reichen und Schönen die Puste auszugehen droht.

Eine Hommage an Fellinis Schwarz-Weiß-Film von 1959 sind die glänzenden Anzüge der Tänzer

Eine wunderbare Hommage an Fellinis Schwarz-Weiß-Film aus dem Jahr 1959 sind die in hell- und dunkelgrau oder in glänzendem Schwarz gehaltenen Anzüge der Tänzer. Auch das Bühnenbild in Form von dehnbaren Längstreifen, durch die sich die Tänzer hineinzwängen oder wieder unsichtbar machen können, begeistert. Am Ende wuseln 21 Akteure über die Bühne, sorgen für flirrende Atmosphäre, bieten Tanzkunst der Extraklasse. Mit reichlich Applaus quittiert das entzückte Publikum die ausgezeichnete Darbietung – die nur möglich ist, weil die Stiftung Eesti Kultuurkapital für den Flug und die Unterbringung der insgesamt 41 Akteure und Begleiter aus Tartu aufkam. Denn das Budget der Fellbacher Kulturverwaltung hätte diese Zusatzausgaben für das ausdrucksstarke Gastspiel nicht hergegeben. Welch’ ein Glück für die hiesigen Ballettfans.