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Die ganze Adventszeit über habe ich vergeblich auf die Ankunft der Weihnachtsstimmung gewartet. Jetzt ist sie da, meine Großmutter hat sie im Koffer mitgebracht.

Tel Aviv - Die ganze Adventszeit über habe ich vergeblich auf die Ankunft der Weihnachtsstimmung gewartet. Jetzt ist sie plötzlich da, meine Großmutter hat sie im Koffer mitgebracht, zusammen mit den selbst gemachten Plätzchen, dem kleinen Weihnachtbaum aus Stoff, dem Glühweingewürz und der Decke mit den roten Weihnachtssternen darauf. Das alles liegt und steht nun auf dem Tisch, zusammen mit dem siebenarmigen jüdischen Leuchter und den Orangen vom arabischen Obstverkäufer und wartet auf den Heiligabend.

Am vergangenen Freitag habe ich die Großmutter am Flughafen Tel Aviv abgeholt. Sie ist zusammen mit einer Freundin gekommen, um mit mir Weihnachten im Heiligen Land zu feiern. Meine Großmutter ist 86 Jahre alt, die Reise ist für sie ein großes Abenteuer, in mehrfacher Hinsicht:

Um nach Israel zu reisen, musste meine Großmutter nämlich ein Visum beantragen. Das ist vorgeschrieben für Deutsche, die vor dem 1. Januar 1928 geboren sind.

Schon im Oktober hatten wir gemeinsam ihren Visums-Antrag ausgefüllt. Neben den üblichen Angaben zu Person und Reisegrund wurde auch eine Erklärung über die Vergangenheit in der Zeit des Dritten Reiches verlangt. Ob meine Großmutter Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Formationen war, wollte das Dokument wissen. Und ob sie bei der Entnazifizierung durch die Spruchkammer in eine der folgenden Kategorien eingestuft wurde: „Schwerbelasteter, Hauptbelasteter, Belasteter, Mitläufer“.

Die Großmutter hatte aus einer Schublade ein postkartengroßes Stück Papier herausgekramt. „Jugend-Amnestie“ stand in Schreibmaschinenschrift auf dem Dokument aus groben Papier und dann: „Auf Grund der Angaben in Ihrem Meldebogen sind Sie von dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 nicht betroffen.“ Ausgestellt am 2. April 1947 von der zuständigen Spruchkammer.

Das war also der Persilschein meiner Großmutter in ein neues Deutschland. Ich hatte ihn zuvor noch nie gesehen und auch meine Großmutter hatte ihn schon Jahrzehnte lang nicht mehr in den Händen gehalten, nie hatte sie jemand danach gefragt. Ein ganzes Leben lag zwischen dem Tag, an dem sie es erhalten hatte und dem Tag, an dem das Kärtchen endlich seinen Zweck erfüllen sollte. Dank ihm konnte meine Großmutter alle Fragen mit „Nein“ beantworten und zwei Wochen später lag der Pass wieder im Briefkasten: Darin das Visum, es ist bis 2022 gültig.

Meine Großmutter kann gut verstehen, dass der Staat Israel von Deutschen ihrer Generation nach wie vor diese Auskunft verlangt. Die Geschichte wiege einfach zu schwer, als dass das jemals vergessen werden könnte, sagt sie. Und dann sagt sie noch: „Wer hätte geglaubt, dass es einmal möglich sein wird, dass eine deutsche Großmutter und ihre Enkelin in Israel zusammen Weihnachten feiern!“

In den vergangenen Tagen haben wir nun ziemlich viele Stellen in Jerusalem und rund um den See Genezareth abgeklappert, wo Jesus laut Bibel gelebt und gewirkt haben soll: Die Brotvermehrungskirche in Tabgha, den Hügel der Bergpredigt, die Reste der Stadt Kafarnaum und die Stelle, wo er den Jüngern erschienen ist, außerdem sein Grab und den Geburtsort Bethlehem.

Keine Frage: Dieses Jahr können wir sehr guten Gewissens Weihnachten feiern - mit Plätzchen aus Deutschland und heißem israelischen Rotwein. Schalom und frohe Weihnachten!