Oehmigen auf dem Weg ins Nichts   Foto: Potti Lau

Er taucht 91 Meter tief mit einem Atemzug: Tim Oehmigen ist der Shooting-Star der deutschen Freitaucherszene. Er überschreitet ständig Grenzen – darf dabei aber nie die Geduld verlieren.

Starzach - Fast zehn Kilogramm Druck lasten auf jedem Quadratzentimeter seines Körpers, als Tim Oehmigen vergangenen Juli den deutschen Rekord aufstellt. Er taucht 91 Meter tief – ohne Sauerstoffgerät. Sein Sport heißt Apnoetauchen und wurde bekannt durch den Film „Im Rausch der Tiefe“. Was diesen Rausch ausmacht und wie das Tauchen sein Leben verändert hat, darüber spricht der 28-Jährige aus Starzach am Neckar im Interview.

Herr Oehmigen, brauchen Sie den Kick?
Das kann man so nicht sagen. Was ich mache, ist keine Extremsportart wie Klippenspringen oder Basejumping. Bei diesen Sportarten geht es ums Adrenalin. Apnoetauchen ist da ganz anders. Beim Tauchen würde es extrem schaden, wenn der Körper Adrenalin ausschüttet. Hier braucht man eine Balance zwischen Entspannung und voller Konzentration. Das gibt es wohl bei keiner anderen Sportart.
Oehmigen mit Klettstück und Tauchuhr Foto: Frank Fuller
Sie sind sehr erfolgreich. Haben Sie schon vorher Leistungssport gemacht?
Ich habe als Jugendlicher Tennis und Tischtennis im Verein gespielt, ab und zu auch Golf. Wirklich intensiv betrieben habe ich aber nichts davon. Das wurde erst mit dem Freitauchen so.
Wie fing es an?
Angefangen habe ich mit Gerätetauchen während eines Thailand-Urlaubs. Irgendwann hörte ich, dass an der Uni Konstanz, wo ich studiert habe, jemand Apnoetauchkurse anbietet. Ich hatte eine vage Vorstellung davon aus dem Film „Im Rausch der Tiefe“. Ich wurde neugierig und meldete mich an. Schon der Anfängerkurs hat mich voll gepackt. Das ist jetzt fünf Jahre her.
Was hat sich seitdem verändert?
Heute trainiere ich so viel ich nur kann. Entweder im Pool, wo ich vor allem an meiner Technik arbeite, oder ich tauche im Meer auf 70 bis 80 Meter, damit mein Körper an die Tiefe gewöhnt bleibt. An Land stretche ich viel und mache Atemübungen, damit meine Lunge flexibel bleibt. Zum Training gehört aber auch, mental wahnsinnig viel an sich zu arbeiten. Dabei hilft mir autogenes Training. Der Sport ist zu 60 Prozent geistige Fitness.
Wie läuft ein Tauchgang ab?
Das beginnt schon ein paar Minuten vor dem eigentlichen Abtauchen. Ich fokussiere mich auf meine Atmung und versuche, an gar nichts zu denken. Vor dem Abtauchen atme ich so tief wie möglich ein, tauche wie eine Ente im Duckdive ab und folge mit Flossenschlägen einem weißen Führungsseil in die Tiefe. Die zweite Phase ist dann der freie Fall.
Der freie Fall?
Der Druck auf den Körper wird zwischen 20 und 30 Metern so groß und das Lungenvolumen so klein, dass der Körper von alleine zu sinken beginnt wie ein Stein. Ich höre dann auf zu schwimmen und konzentriere mich nur noch auf den Druckausgleich und meine Körperposition. Wenn die stimmt, falle ich immer schneller, und diese Geschwindigkeit muss ich ausnutzen. Das Einzige, was ich dabei wahrnehme, ist, wie das Wasser an meinen geschlossenen Augen vorbeirauscht. Das Gefühl des Fallens ist toll, man muss nichts machen und fällt in die Tiefe. Das ist ein bisschen wie fliegen. Ansonsten fühlt man eigentlich nur noch den Tiefenrausch, der bei mir ziemlich genau nach 65 Metern einsetzt.
Wie kann man sich das vorstellen?
Durch den hohen Druck wirkt der Stickstoff im Körper ab einer gewissen Tiefe narkotisch. Es ist dann alles viel intensiver, man verliert komplett das Zeitgefühl, weiß nicht mehr genau, was man gerade tut und ist auf einem sehr unterbewussten Level. Das ist so, als ob du im Auto sitzt und gar nicht mehr bewusst wahrnimmst, dass du die Kupplung drückst. Als hättest du den Autopiloten eingeschaltet. Man kann zum Beispiel auch nicht mehr 71 minus 20 rechnen. Ein sehr merkwürdiges Gefühl.
Was sieht man 90 Meter unter der Wasseroberfläche?
Es ist meistens noch relativ hell, nur tiefer blau. Aber meistens habe ich die Augen zu, weil ich ja keine störende Brille trage und die Sicht im Meerwasser gerade reicht, um das Seil vor mir zu sehen. Ich habe mich schon gefragt, wie oft ich wohl an etwas vorbeigeschwommen bin, ohne es zu wissen. Es gibt da so eine irrationale Angst, dass ich im Sinken plötzlich auf etwas Großes falle. Beim Sichern von anderen Tauchern ist schon mal ein Walhai direkt an mir vorbeigeschwommen. Er war so nah, dass ich ihn hätte anfassen können. Ein anderes Mal schwamm ein Barrakuda-Schwarm um uns herum. Ich habe auch schon riesige Rochen gesehen.
Legen Sie vorher schon fest, wie tief Sie tauchen wollen?
Ja, die Leine ist genauso lang wie vorher angesagt. Da nützt es auch nichts, wenn ich unten bin und merke, dass ich eigentlich noch tiefer könnte. Am Seilende hängt dann ein kleines Klettstück, das muss ich abreißen und als Beweis wieder nach oben bringen.
Was müssen Sie dann auf dem Weg nach oben beachten?
Ich darf auf keinen Fall ungeduldig werden und muss auf meine Schwimmtechnik achten: sehr rhythmische und effiziente Schläge mit der Monoflosse. Bei etwa 30 Meter kommen mir die Sicherheitstaucher entgegen. An der Wasseroberfläche atme ich dann tief ein, und nach dem ersten Atemzug fühle ich mich schon wesentlich besser, weil viel Kohlenstoffdioxid aus meinem Körper entweicht. Das ist dann immer ein sehr schönes Gefühl.
Welcher war Ihr schönster Tauchgang?
Das war letzten Sommer, mein Rekordtauchgang auf den Philippinen. Schon kurz vor dem Abtauchen hatte ich meine Augen geschlossen und fühlte mich wie in Trance, als ich dann losgeschwommen bin. Ich kann mich auch nur noch an wenige Bilder von diesem Tauchgang erinnern. Als ich wieder an die Oberfläche kam, dachte ich nur: Geil, was für ein einfacher Dive!
Der perfekte Tauchgang?
Genau. Ich konnte mich in einen Zustand bringen, der so entspannt war, dass ich kein Zeitgefühl mehr hatte. Der Tauchgang verging wie im Flug – und was eigentlich dreieinhalb Minuten dauerte, fühlte sich kaum halb so lange an. Das macht total glücklich.
Es ist kein ungefährlicher Sport. Nick Mevoli, ein Weltklassetaucher aus den USA, kam bei einem Wettbewerb 2013 ums Leben.
Ich würde Freitauchen nicht als gefährlich bezeichnen. Wer die Regeln beachtet, dem kann eigentlich nichts passieren.
Nick Mevoli tauchte innerhalb der Sicherheitsstandards beim Vertical Blue auf den Bahamas, dem prestigeträchtigsten Tauchevent der Welt.
Das war aber bislang der einzige tödliche Unfall innerhalb der geltenden Standards. Und dieses Unglück hatte auch einen bestimmten Grund: Das Gefährlichste am Freitauchen sind Lungenverletzungen. Man bemerkt zwar Symptome, hat aber kaum Schmerzen. Diese Verletzungen sind ungefährlich, wenn sie richtig auskuriert werden. Nick Mevoli war so stark auf seinen Erfolg fokussiert, dass er die Symptome lange ignoriert hat. Er hat vor dem Unfall bei Tauchgängen Blut gespuckt. Dennoch wurde ihm das Tauchen von offizieller Seite nicht verboten. Heute sind die Regeln strenger. Wenn jemand Symptome einer Lungenverletzung zeigt, muss er sofort zum Arzt und Tests absolvieren. Nur wenn er diese besteht, darf er wieder antreten.
Wie tief wollen Sie noch gehen?
Ich sehe bei mir kein Limit. Ich tauche aber nicht nach Zahlen. Wichtig ist für mich, ein gutes Gefühl und Spaß beim Tauchen zu haben. Es kann gut sein, dass ich in drei Jahren auf Weltrekordniveau tauche. Vielleicht aber auch gar nicht mehr.
Wie tief kann der Mensch überhaupt tauchen?
Es gibt etwa 20 Leute auf der Welt, die die 100 Meter knacken können, aber nur eine Handvoll Menschen, die noch tiefer kommen. Der Weltrekordhalter Alexei Molchanov aus Russland taucht 128 Meter tief. Obwohl alles eine Frage des Trainings ist, bin ich überzeugt, dass es wegen der hohen Stickstoffbelastung des Körpers eine natürliche Grenze für den Menschen gibt. 200 Meter wird kein Freitaucher jemals schaffen. Anders ist es beim sogenannten No-Limit-Tauchen. Dabei wird man von einem Metallschlitten in die Tiefe gezogen und mithilfe von Druckluftkissen wieder nach oben gedrückt. So kommt man noch deutlich tiefer.
Wäre das nichts für Sie?
Nein! Ich bleibe auf jeden Fall bei den Disziplinen ohne technische Hilfsmittel. Das No-Limit-Tauchen verzerrt das mediale Bild vom Freitauchen total, und das ärgert mich. Es ist eine viel größere Leistung, 100 Meter tief ohne Schlitten als 150 Meter mit Schlitten zu tauchen. Aber 150 Meter hört sich eben spektakulärer an.
Können Freitaucher von ihrem Sport leben?
Da gibt es nicht viele. Rekorde erleichtern das Ganze. Ich arbeite momentan in einer Tauchschule auf den Philippinen, da sind meine sportlichen Erfolge natürlich auch nützlich für mich. Trotzdem bin ich jetzt auf Sponsorensuche, weil die großen Tauchwettbewerbe viel Geld kosten.
Wie geht es mit Ihrer Karriere weiter?
Das überlege ich mir auch gerade. Es wäre schön, vom Tauchen leben zu können. Im vergangenen Jahr habe ich meinen Master-Abschluss in Finanzökonomie gemacht. Ich würde gerne etwas Erfahrung in diesem Beruf sammeln, bevor ich mich dann endgültig entscheide.
Hat das Freitauchen auch Ihr alltägliches Leben beeinflusst?
Schon. Ich war immer jemand, der sich viel über Kleinigkeiten aufgeregt hat. Ich mache das viel seltener, seit ich freitauche. Mir fällt es leichter, mich auf die tatsächlich wichtigen Dinge zu konzentrieren. Ich habe auch gelernt, besser mit Stresssituationen umzugehen. Zum Beispiel war ich manchmal ziemlich aufgeregt, wenn ich als Student ein Referat vor Publikum halten musste. Durch Techniken, die ich beim Tauchen lernte, konnte ich in solchen Situation ruhiger werden. Die Atmung ist das Entscheidende – auch an der Uni.