Mehrmals am Tag messen Diabetiker ihren Blutzucker – für viele wird das auch zu einer seelischen Belastung Foto: dpa

Sechs Millionen Menschen in Deutschland sind zuckerkrank – viele von ihnen haben eine Depression, sagt der Mediziner Bernhard Kulzer.

Herr Kulzer, wie hoch ist die Gefahr für Menschen mit Diabetes, an Depressionen zu erkranken?
Das Risiko ist erhöht. Aber nicht jeder hat dasselbe Risiko. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Geringere Bildung, weniger Ressourcen, um mit kritischen Situationen umzugehen und materielle Sorgen lassen das Risiko steigen. Und es ist so, dass der Typ-2-Diabetes besonders Menschen aus sozial niedrigen Schichten betrifft. Das hängt wohl mit Übergewicht, schlechter Ernährung, wenig Bewegung zusammen. Patienten, die aufgrund der Diabetes an Folgeerkrankungen leiden und die eine Unterzuckerung erlitten haben, sind gefährdet, depressiv zu werden.
Warum ist das so?
Diabetes ist keine isolierte Krankheit. Man hat nicht nur an einer Stelle Folgeerkrankungen. Der Zucker schädigt alle Gefäße und Nerven im Körper. Man ist beim Gehen behindert, hat Nervenschmerzen, das Herz arbeitet nicht mehr richtig, oder die Sehkraft ist eingeschränkt. Dadurch ist man in ganz unterschiedlichen Bereichen des Lebens behindert. Da geht Lebensqualität verloren.
Man unterscheidet zwischen verschiedenen Diabetes-Typen. Ist eine Gruppe besonders gefährdet, zusätzlich an einer Depression zu erkranken?
Da gibt es keinen Unterschied. Ein Risiko stellt die Schwangerschaftsdiabetes dar. Das hängt mit der Hormonumstellung bei der Frau und der Sorge um das Kind zusammen.
Was sind die Gefahren, wenn ein Zuckerkranker depressiv wird?
Diabetiker sind in ihren Therapieentscheidungen jeden Tag auf sich allein gestellt. Sie müssen den Blutzucker messen, einbeziehen, wie viel sie sich bewegt haben, was sie gegessen haben. Der Patient muss die Bauchspeicheldrüse nachahmen, ein fein abgestimmtes Organ. Man muss sich also jeden Tag motiviert um seine Erkrankung kümmern. Aber wenn man eine Depression hat, fehlt der Antrieb. Entscheidungen, die man sonst einfach fällt, werden hinterfragt. Der Patient überlegt: Soll ich messen oder nicht? Die Behandlung leidet, die Gefahr für Folgeerkrankungen erhöht sich, und die Lebensqualität sinkt.
Die Menschen geraten dann in einen Teufelskreis?
Ja. Die Blutzuckerwerte werden schlechter, dadurch sinkt die Lebensqualität, und die Depression verstärkt sich. Da kommt man nicht mehr so leicht raus – vor allem nicht ohne Hilfe.
Empfehlen Sie denn, dass Menschen mit einer Neudiagnose sofort auch psychologisch betreut werden?
Alle sind sich einig, dass eine Schulung durch einen Diabetes-Berater sehr wichtig für die Patienten ist. Diese Schulung verhindert, dass die Menschen seelisch krank werden. Man lernt nicht nur, wie man Blutzucker misst, sondern auch, wie man mit der Erkrankung im Alltag umgeht. Die Betroffenen sprechen über die Einstellung zum Leben.
Wie viele Menschen mit Diabetes leiden an einer Depression?
Jeder zehnte Diabetiker ist betroffen. Bei sechs Millionen Diabetes-Patienten sind das 600 000. Jeder vierte steht an der Schwelle zu einer Depressionen.
Wie sieht die Behandlung aus?
Zunächst bekommen die Menschen ein psychotherapeutisches Angebot. Wenn man Medikamente gibt, dann ist es wichtig, die richtigen zu geben. Denn der Blutzuckerspiegel wird durch Medikamente auch beeinflusst. Häufig werden die trizyklischen Antidepressiva der älteren Generation verschrieben. Eine Nebenwirkung dieser Medikamente ist die Gewichtszunahme von vier bis sechs Kilo. Das ist aber genau das Falsche bei Patienten mit Diabetes. Schon dadurch allein werden die Blutzuckerwerte schlechter. Besser sind die sogenannten Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer. Sie haben weniger Nebenwirkungen, sind aber auch teurer.
Es ist also sehr wichtig, an einen Arzt zu gelangen, der sich auskennt.
Ja, denn man hat auch herausgefunden, dass die trizyklischen Antidepressiva bei Menschen, die ein erhöhtes Risiko haben, an Diabetes zu erkranken, die Zuckerkrankheit auslösen. Wir wissen ja auch, dass depressive Menschen gefährdeter sind, an Typ-2-Diabetes zu erkranken.
Warum?
Wenn man sich ständig nicht wohlfühlt und die schlechten Gedanken mit in die Nacht nimmt, dann schläft man schlecht, und der Körper erholt sich nicht. Das bedeutet für den Körper Stress. Zusätzlich kommt es zu entzündlichen Prozessen in den Gefäßen. Dieser Dauerstress schädigt die Gefäße. Und die Gefäße sind die Achillesferse eines Zuckerkranken.
Eine frühe Therapie ist also wichtig. Woran erkennt man eine Depression?
Wenn der Patient sich nicht mehr um den Diabetes kümmert und die Blutwerte erhöht sind. Es gibt klassische Kriterien, an denen man eine Depression erkennt: Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und Interessensverlust. Treten diese drei Merkmale über einen Zeitraum von zwei Wochen auf, spricht man von einer Depression.
Über eine depressive Phase darf man also in keinem Fall einfach so hinweggehen?
Nein, denn wenn man sich in Behandlung begibt, dann liegen die Heilungschancen nach einem halben Jahr Gesprächstherapie bei 80 Prozent. Allerdings kann man nie ausschließen, dass die depressive Phase zurückkehrt.