Mit Holzsprießen werden die Wände der historischen Häuser in der Reutlinger Altstadt gestützt. Foto: Berardi

Die älteste Häuserzeile in Süddeutschland droht zu verfallen. Sie stammt aus dem 14. Jahrhundert und steht in der Reutlinger Altstadt. Ohne Hilfe des Landes könne die Sanierung nicht gelingen, mahnt die Oberbürgermeisterin Barbara Bosch an.

Reutlingen - Noch ein kräftiger Windstoß – so scheint es – und die baufällige Häuserzeile in der Reutlinger Oberamteistraße könnte ins Kippen kommen. Drahtseile – von einer bröselnden Wand zur anderen gespannt – bringen Stabilität. Mit Stahlträgern und einem guten Dutzend riesiger Holzbalken, die über die Etagen hinweg die schrägen Außenwände stützen, gelingt es zumindest provisorisch, dem Ganzen Halt zu geben. Wie aufgespießt sieht das historische Ensemble aus: Es ist versteckt hinter Gerüsten, einem Toilettenhäuschen und grünen Schutznetzen – dabei könnte die Zeile das architektonische Vorzeigeobjekt der Stadt sein.

Ihre Geschichte würde es allemal rechtfertigen. Die vier denkmalgeschützten Gebäude stammen aus dem 14. Jahrhundert und lassen Bauhistoriker und Architekten regelrecht ins Schwärmen geraten. „Das ist die älteste Häuserzeile in Süddeutschland“, sagt Simone Wolfrum, die Oberkonservatorin beim Landesamt für Denkmalpflege. Sie führt mit ernstem Blick durch die Gemäuer. „Wir können nicht mehr fünf Jahre zuwarten, es könnte jederzeit ein Bauteil versagen“, warnt sie. Alles sei ins Rutschen geraten. Bereits acht Grad betrage die Schrägstellung der Gebäude, doppelt so viel wie beim schiefen Turm in Pisa. Und der sehe auch schon bedrohlich aus.

Das abgerissene Eckhaus diente als Widerlager

Die größte Sünde sei es gewesen, in den 70er Jahren ein Eckhaus abzureißen, das die Zeile stabilisiert und als Widerlager gedient habe. Doch die fehlende Ecke ist bei Weitem nicht die einzige Schwachstelle des Ensembles, das sich größtenteils in städtischer Hand befindet. Der Holzwurm zerfrisst das Fachwerk, Balken verfaulen, und nicht nur Pilzbefall, sondern auch eindringende Feuchtigkeit setzt den Häusern zu.

Vorsichtig nimmt Simone Wolfrum die morschen Treppen in das obere Geschoss des Hauses mit der Nummer 30. Prilblumen-Aufkleber an den Küchenwänden, Überbleibsel früherer Mieter aus den 80er Jahren, interessieren sie nicht. Auch herabhängende Kabel und Deckenstücke lässt sie links liegen. „Schauen Sie mal, hier haben wir einen Sensationsfund, das hat keiner erwartet“, sagt Wolfrum und steuert auf freigelegtes Mauerwerk hinter einem Holzsprieß zu. „Das ist ein frühgotisches Portal samt einer Spindeltreppe.“ Sie habe den ersten Stock mit der darüberliegenden Etage verbunden, erläutert Wolfrum, die es kaum erwarten kann, dass die historischen Gebäude unter der kundigen Begleitung von Restauratoren, Tragwerksplanern und Altbauspezialisten saniert werden. „Jedes einzelne Brett wird angehoben werden müssen, die Zeile ist alles andere als ein Renditeobjekt“, sagt Wolfrum.

In einem früheren Gutachten wurden die Kosten für die Sanierung einschließlich eines Neubaus an der Ecke auf zehn Millionen Euro geschätzt. Ob das reicht, ist fraglich. „Wir können das nicht alleine stemmen“, hat die Reutlinger Oberbürgermeisterin Barbara Bosch mehrfach gesagt. Sie setzt auf finanzielle Hilfe des Landes. Im aktuellen Reutlinger Haushaltsentwurf sind neun Millionen Euro für die Rettung des Ensembles vorgesehen, es ist eines der größten Investitionsvorhaben. Im Januar entscheidet der Gemeinderat darüber.

Zum Wohnen ist die Immobilie nicht geeignet

Für einen Investor ist die Immobilie wenig lukrativ. Eine Wohnnutzung in großem Stil ist nicht möglich, es dürfen nicht mehr als 200 Kilogramm Belastung auf einen Quadratmeter einwirken. Auch eine Erweiterung des benachbarten Heimatmuseums ist nur eingeschränkt denkbar, als klassische Ausstellungsflächen wären die Räume nicht geeignet. Wolfrum plädiert deshalb dafür, die Häuser selbst zum Museum zu machen und liebevoll auszustatten. „Funktionale Bereiche, die Aufzüge und Toiletten könnten in der neuen Eckbebauung ihren Platz finden“, sagt die Architektin und hofft, dass bald ein Träger gefunden wird, der das sensible Projekt in Angriff nimmt.

So akribisch wie ein Schatzsucher durchforstet der Tübinger Restaurator Rüdiger Widmann die Häuser. Wo immer Bauteile entfernt werden, ist er mit Pinsel und Werkzeug zur Stelle und sammelt ein, was das Mauerwerk oder die Decken freigeben: eine Heugabel und Kerzenständer, ein rostiges Gewehr und Pfeifendeckel. „Hier haben wir das Kontorbuch eines Schneiders von 1894“, sagt Widmann und zieht ein halb zerfleddertes Heft aus einem Karton. Jedes Fundstück wird fotografiert, kleine Teile kommen in Plastiktüten.

Die Objekte bringen Licht in die Geschichte des Ensembles, und sie könnten dereinst nach der Restaurierung in den Räumen ausgestellt werden. „Es wohnten viele Kinder in den Räumen“, schlussfolgert Widmann, der jede Menge Spielzeug entdeckt hat – vom Puppenkinderwagen aus dem 19. Jahrhundert bis zu Murmeln und Blechtröten.

Die Bohlenbalkendecke ist historisch besonders wertvoll

In der guten Stube des Hauses mit der Nummer 32 endet der Rundgang. „Die gewölbte Bohlenbalkendecke gehört zu den Top Fünf in Deutschland“, sagt Wolfrum. Ein Kunstwerk, das auf 1320 datiert werde. „Die Bohlenwände waren sichtbar und womöglich bemalt.“ In der Zimmerecke stand ein Kachelofen, der von der benachbarten Küchenzone aus befeuert wurde. „Der wohl einzige beheizte und sogar rußfreie Raum im Haus“, erläutert die Konservatorin. Und der Ort, an dem sich die Bewohner im Winter aufgehalten und in kalten Nächten vermutlich sogar geschlafen hätten. „Das waren keine Billigbauten“, urteilt Wolfrum, „hier wohnte früher sicherlich die Reutlinger Oberschicht.“