Bauprojekte, politische Strömungen und Tarifauseinandersetzungen: In Deutschland darf jeder auf die Straße, solange er sich in seinen Äußerungen nicht gegen das Grundgesetzt stellt. Staatsrechtler sprechen von einem „Jedermannsrecht“. Foto: Lichtgut/Volker Hoschek

Stuttgart zieht als Landeshauptstadt viele Demos an. Mit dem Protest gegen Stuttgart 21 stieg die Zahl vor sechs Jahren. Seither ist das Niveau gleichbleibend hoch.

Stuttgart - Einmal mehr regt sich in der Stadt am Samstag der Protest gegen den Protest: Händler und einkaufswillige Bürger schimpfen, dass aufgrund der Großdemo gegen die Handelsabkommen TTIP und Ceta der Weg in die Innenstadt erschwert sei, da viele Straßen gesperrt sein werden. Die ersten Einschränkungen bestehen bereits seit Freitagabend.

In diesem Zusammenhang wird auch die Vermutung geäußert, es würden immer mehr Demos in Stuttgart veranstaltet. Dem ist nicht so: Um die 1400 Versammlungen pro Jahrzähle das Ordnungsamt seit mehreren Jahren bereits regelmäßig, sagt Stefan Praegert, der Leiter der Versammlungsbehörde. Mit diesem Wert rechne er auch wieder für das laufende Jahr. 2015 waren es 1324, bis einschließlich Sonntag seien in Stuttgart 929 Versammlungen angemeldet. „Das heißt, dass wir wieder eine ähnliche Anzahl erreichen werden“, schätzt Praegert. Auf den Wert von rund 1400 Versammlungen pro Jahr gestiegen sei die Zahl in der Zeit des Stuttgart-21-Protests, und seither auf diesem Niveau geblieben.

Der Cityring und einige angrenzende Straßen sind am Samstag gesperrt

So viele Demonstranten auf einen Schlag, wie sie am Samstag in der Stadt erwartet werden, hat Stuttgart aber schon lange nicht mehr gesehen: Mit 30 000 Teilnehmern rechnet das breite Bündnis, das zum Protest gegen die Handelsabkommen Ceta und TTIP aufruft. Das ist eine Zahl, die zuletzt Stuttgart-21-Gegner in der Hochzeit des Protests mobilisieren konnten. Staunen und Verärgerung haben dabei die recht weiträumigen Straßensperrungen hervorgerufen: Nicht nur die eigentliche Strecke des Cityrings, welche die TTIP-Gegner gehen wollen, ist zeitweise dicht gemacht. Auch der Wagenburgtunnel und die Zufahrt in die Stadt über die Neue Weinsteige und den Charlottenplatz sind unter anderem zeitweise gesperrt. „Das ist der Anzahl der Teilnehmer geschuldet, welche die Veranstalter angemeldet haben“, erläutert Praegert. Das Ordnungsamt und die Polizei wollten mit den weiträumigen Sperrungen dafür Sorge tragen, dass die Fußgänger im Demozug nicht dem Autoverkehr begegnen. „Es geht ja immer mal jemand eine Straße weiter. Weil er eine Flasche Wasser kaufen will zum Beispiel. Da ist es sicherer, wenn man Abstand einplant“, erläutert der Chef der Versammlungsbehörde. Ähnlich sei man auch bei den ganz großen S-21-Demos vorgegangen.

Händler beschweren sich über die große TTIP-Demo am Samstag

„Natürlich gibt es Leute, die das stört, wir haben Beschwerden erhalten“, sagt Praegert. Jedoch halte er dem stets entgegen, dass die Versammlungsfreiheit ebenso wie die Meinungsfreiheit elementare Grundrechte sei, festgehalten im Grundgesetz. Außerdem seien es sogenannte Jedermannsrechte, die nicht nur Bürgern, sondern jedem zustehen, der sich im Land aufhalte. Das entkräfte die Kritik einzelner, wenn ausländische Gruppen in Deutschland demonstrieren.

Demonstrieren dürfe jeder, der nicht gegen das Grundgesetzt verstoße. Versammlungen müssten lediglich angemeldet werden. „Wir genehmigen nicht, wie es immer heißt, wir nehmen die Anmeldung entgegen“, erläutert Praegert. Steuernd eingreifen könne die Stadt mit Auflagen, etwa bei der Veranstaltungszeit oder beim Ort. Die TTIP-/Ceta-Demo hat keinerlei Auflagen. „Wir haben lediglich den Hinweis gegeben, dass ausreichend Toiletten zu stellen sind“, so Praegert. 21 Klos stehen nun für die Teilnehmer bereit.

Die Zunahme der Zahl der Demos ist kein spezielles Stuttgarter Phänomen. In Karlsruhe registrierte man im Jahr 2015 insgesamt 271 Versammlungen, während es in den Jahren zuvor 160 bis 170 gewesen waren. Das habe unter anderem an den Kargida-Veranstaltungen gelegen, der Karlsruher Ableger der Pegida-Bewegung. Mannheim verzeichnet einen ähnlichen Trend und zählte 2015 schon 248 Versammlungen. Das in Baden-Württemberg Stuttgart die höchsten Zahlen aufweist, liege an der Eigenschaft als Landeshauptstadt: Wer ein politisches Anliegen habe, wolle seine Meinung auch dort kundtun, wo Politik gemacht wird, so Praegert.

In Hessen ist nicht die Landeshauptstadt das Ziel der meisten Demonstranten

Ein Blick nach Hessen zeigt, dass das nicht in jedem Bundesland so ist. „Wir haben hier die Gewerkschaften oder Lehrer beim Landtag“, heißt es im Wiesbadener Ordnungsamt. Wer es auf eine breite Öffentlichkeit anlege, ziehe nach Frankfurt. „Wir sind Medienstandort und Finanzplatz“, sagt Jörg Bannach, der Leiter des Frankfurter Ordnungsamtes. Auch in der Mainmetropole habe sich das Demoaufkommen in den zurückliegenden sechs Jahren fast verdreifacht, auf zuletzt mehr als 1600 (2015). Dazu zählten viele wiederkehrende Veranstaltungen – etwa die Montagsdemo gegen den Flughafenausbau, die lediglich in den Sommerferien pausierte.