Besuch in der Staatsgalerie Foto: Hagedorn

Sie haben sich Inklusion zur Lebensaufgabe gemacht: Die Gründer der Initiative Rosen-Resli vermitteln seit acht Jahren Kunst an Menschen mit Demenz. Eine schwierige Aufgabe, die aber erstaunlich positive Effekte hat.

Stuttgart - Hans-Robert Schlecht, Menschen mit Demenz und Museen – wie passt das zusammen?
Museen sind bei der Vermittlung von Kultur an Menschen mit Demenz die Königsdisziplin. Dort können die Betroffenen kommunizieren, können mitmachen, etwas tun. Viele Kunstschaffende denken ja, diese Menschen könnten gar nichts mehr und seien vollkommen passiv. Das haben wir anfangs auch gedacht, wurden aber schnell eines Besseren belehrt.
Inwiefern?
Bei vielen Demenzkranken sind das Gehirn und der Verstand beeinträchtigt. Die Emotionen sind aber noch voll da. Die Gefühle kommen unkontrolliert, ohne dass der Verstand vorher eingeschaltet wird. Da ist eine Sperre weg – positiv wie negativ. Deshalb haben die Menschen auch einen unmittelbaren Zugang zur Kunst.
Da treten sicher spannende Dinge zutage?
Als meine Mutter noch gelebt hat, waren wir mit ihr und einer Gruppe von Dementen in der Staatsgalerie und saßen im Kreis um die Skulptur „Der gefallene Mann“ von Wilhelm Lehmbruck. Dabei handelt es sich um die lebensgroße Statue eines Mannes, der in gebückter Haltung über den Boden kriecht. Und dann kam eine ganz spontane Reaktion von meiner Mutter, die sagte: Der hat aber einen schönen knackigen Hintern! (lacht)
Das kam in der Tat unverhofft.
Sie sehen: Es geht dabei nicht um kunsthistorische Betrachtungsweisen, sondern es geht darum, Geschichten zu erzählen. Das Beispiel täuscht allerdings ein wenig darüber hinweg: Alles in allem ist die Kulturvermittlung für Menschen mit Demenz eine schwierige Aufgabe. Aber wir wollen den Menschen die Chance geben, sich mit Kultur zu beschäftigen. Und die finden das toll, gerade weil es über Gefühle funktioniert.
Gibt es dabei auch traurige Momente?
Als ich mal mit einer Betroffenen durch ein Museum ging, war sie plötzlich von einem Bild völlig gefangen. Es zeigte eine Szene in den Bergen, und die Frau fing auf einmal an, von ihrem Mann zu erzählen – offensichtlich war sie mit ihm früher viel in den Bergen unterwegs. Allerdings war er schon gestorben, weswegen sie anfing zu weinen. Auch solche Reaktionen kann die Kunst auslösen.
Wie gehen Sie mit solchen Situationen um?
Deshalb wird jeder Besucher bei uns immer von einer ausgebildeten Kraft begleitet – von uns Co-Pilot genannt. Die wissen, wie am besten mit solchen Situationen umzugehen ist. Außerdem achten wir darauf, dass die Gruppen immer so zwischen sechs bis acht Teilnehmer haben, die jeweils individuell betreut werden.
Sie waren mit die Ersten in Deutschland, die Menschen mit Demenz und Kultur überhaupt erst zusammengebracht haben. Woher wussten Sie, ob und wie das überhaupt funktioniert?
Wir sind über einen Artikel in einer Kunstzeitschrift auf Dr. John Zeisel gestoßen. Er arbeitet als Dozent an namhaften Universitäten in den USA und war im Jahr 2006 ein Pionier in der Kunstvermittlung für Menschen mit Demenz. Das hat uns begeistert. Wir haben ihn kontaktiert, und ein paar Tage später hat er uns in Stuttgart besucht.
Sie haben sich also fachliche Hilfe geholt?
Das war auch gut so. Zeisel hat uns beispielsweise gelehrt, dass diese besondere Art der Kunstvermittlung nur im Museum funktioniert.
Musik, Theater oder gar die Oper sind demnach weniger geeignet?
Nein, so kann man das nicht sagen. Gerade Musik wird von unseren Besuchern gerne angenommen. Musik berührt die Hörer sehr emotional, also ohne Umwege. Das Museum jedoch hat ein herausragendes Merkmal: Das Bild, die Skulptur, vor dem die Teilnehmer sitzen, erzählt oder besser bietet den Menschen eine Geschichte an, und die wird angenommen und im gemeinsamen Gespräch fortentwickelt. Und daraus entsteht eine positive Situation, die Menschen sind in diesem Augenblick im Hier und Jetzt, mit sichtbar verbesserter Aufmerksamkeit. Musik ist dagegen eine Einbahnstraße, kein gruppendynamischer Prozess. Doch Opernhaus, Konzertsaal und Museum haben eine Gemeinsamkeit, das sind die beeindruckenden Räume. Und manchmal nutzen wir die Angebote beider Häuser, dann wird im Museum gesungen.
Wie hat denn die Musik auf die Menschen gewirkt?
Adam Kim – damals Sänger im Ensemble der Oper – hatte sich dazu bereit erklärt, die Champagne-Arie aus „Don Giovanni“ für unsere Gruppe zu singen. Die Teilnehmer sind vor Begeisterung fast vom Stuhl gefallen.
Vergessen die Demenzkranken nach den Ausflügen nicht wieder vieles?
Ja das tun sie, doch oft bleibt ein Stück Erinnerung, nur kurz, aber in Worte fassbar. Nach einem Besuch der Staatsgalerie wurden einzelne Teilnehmer einmal für das Radio interviewt. Als wir die Aussagen einer Dame später Ärzten vorgespielt haben, bestritten diese, dass die eloquente Dame demenziell verändert ist. Allein die Aktivierung durch die Kunst hat bewirkt, dass sie einen so klaren Moment erlebt hat.

Hinweis der Redaktion: Der Interviewte und der Interviewer sind nicht verwandt oder verschwägert. Die Gleichung ihres Nachnamens ist rein zufällig.