Gemälde von Edgar Degas (Ausschnitt) Foto: Kunsthalle Karlsruhe

Wer meint, Edgar Degas (1834–1917) zu kennen, täuscht sich offenbar. „Dass er kein Impressionist war, ist mittlerweile Gemeingut der jüngeren Degas-Forschung“, sagt Karlsruhes Kunsthallen-Direktorin Pia Müller-Tamm. Und: „Inwieweit er vor allem Realist war, wird unterschiedlich beurteilt.“

Karlsruhe - Neue Sichtweisen also sollen begründen, weshalb dem populären Chronisten des modernen Pariser Lebens, der in großen Ausstellungen weltweit präsent ist, in Karlsruhe nun erneut besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Tatsächlich rückt Alexander Eiling, der die große Herbstschau „Degas, Klassik und Experiment“ erarbeitet hat, eine Fülle von Aspekten ins Blickfeld, die man bisher übersehen hat.

Beflügelt von Vorarbeiten zu „Déja vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube“, womit das Haus 2012 das Phänomen des Kopierens thematisiert hat, konnte Eiling zahlreiche Leihgeber in aller Welt von seiner Ausstellungsidee überzeugen, so dass den Besucher jetzt rund 120 Arbeiten von Degas erwarten, die eine gezielte Auswahl an Bildern von Rembrandt, Ingres, Géricault, Chassériau, Daumier, Manet, Gauguin und Cézanne aufschlussreich ergänzt.

„Keine Kunst ist weniger spontan als meine“, wird der Maler zitiert, der beim legendären ersten Auftritt der aufmüpfigen jungen Künstler, 1874 im Atelier von Nadar, dem Fotografen, maßgeblich beteiligt war. Der Kritiker Louis Leroy hatte die Maler der Werke als „Impressionisten“ verunglimpft, weil sie allzu flüchtig ans Werk gingen.

Degas experimentierte mit zeichnerischen und grafischen Techniken

Nun liefert diese Ausstellung gewichtige und mit Beispielen belegte Argumente, dass Kunstgeschichte keineswegs so zielstrebig vorwärtseilt, wie es das Klischee von den Erneuerern und Bahnbrechern der Moderne will. Als „Vaterfigur“ und Anreger „fortschrittlichen“ Kunstschaffens soll sich Edgar Degas nicht eignen. Und das Studium alter Meister und großer Vorbilder im Louvre, wo sich Degas und Edouard Manet 1862 beim Kopieren einer Infantin von Velazquez erstmals begegneten, soll nicht etwa so rasch wie möglich eigenem Schaffen weichen. Vielmehr gewährt der anhaltende Blick zurück Inspiration und bildet Basis und Rückversicherung fürs Eigene. „Kunst weitet sich nicht aus, sie wiederholt und verdichtet sich“, erklärte der Maler 1872.

Das schließt den offenen Blick für Gegenwärtiges und Neues aber keineswegs aus. Wie kein anderer setzte sich Degas mit zeichnerischen und grafischen Techniken auseinander. Er experimentierte mit der Monotypie, nutzte die Fotografie für Bewegungsstudien, ließ sich für manche extravagante Kompositionsidee vom japanischen Holzschnitt leiten, arbeitete nicht zuletzt auch plastisch und formte Wachsfiguren, die in Bronze gegossen wurden.

Die Janusköpfigkeit seiner skeptischen Sicht wird an einem beidseitig bearbeiteten Blatt deutlich, das den Besucher zu Beginn des Rundgangs empfängt. Es zeigt rückseitig das kopierte Selbstbildnis eines Künstlers, den Degas für Raffael hielt und das heute Parmigianino zugeschrieben wird. Vorn blickt uns Degas fragend selbst an, der 1854 zwanzig Jahre alt ist. Das setzt sich 1857 in kleinem Format und nachdenklich, aber delikat mit Öl auf Papier gemalt fort. Entsprechende Radierungen von Rembrandt leisten Gesellschaft, ehe das „Selbstporträt mit erhobenem Hut“ von 1863 den Künstler in der Pose des bürgerlichen Dandys zeigt.

„Die Familie Bellelli“ (1858–1867), zweimal zweieinhalb Meter groß, zeigt Degas schon als Meister psychologischer Durchdringung prekärer Beziehungen. Den beiden Schwestern Giovanna und Giulia Bellelli gilt auch ein Doppelbildnis, auf dem die beiden unterschiedlichen Charaktere einander den Rücken zukehren.

Das Porträt als Experimentierfeld

Wie sehr es dem Maler darauf ankam, „aus einem Charakterkopf eine Studie moderner Empfindung (zu) machen“, wird an „Porträts von Freunden und Bekannten“ deutlich, dem „Bildnis Madame Jeantaud“ etwa oder „Hélène Rouart in der Sammlung ihres Vaters“. Das Porträt als Experimentierfeld sozialer Analyse steht auch beim Kapitel „Zwischen Porträt und Genre“ beziehungsweise „Das moderne Individuum“ im Mittelpunkt. Bei einem Mann in Gesellschaft einer jungen Frau an einem Schreibtisch bezeichnet der Titel die gedrückte Stimmung ausdrücklich als „Schmollen“.

Mit einer „Büglerin“ war Degas schon 1874 im Atelier von Nadar aufgefallen. „Die Krankenpflegerin“ liefert, hinter einer Türöffnung sitzend, ein Bild öder Leere, das an Munch erinnert. „Die Gesangsprobe“ reizt mit dem zur Seite gedrängten Pianisten und den mit dramatischen Gesten und auf Distanz interagierenden Sängerinnen fast zum Lachen. „Das Baumwollkontor in New Orleans“ (1873) zeigt ein fast collageartig zusammengesetztes Nebeneinander selbstvergessener Individuen. Niemand spricht. Keiner nimmt Notiz vom Nachbarn oder gar vom Betrachter. Werner Hofmann nannte das ein „getrenntes Beieinander“. Geschäftiger Leerlauf, aber ein Wunder an kompositorischer Berechnung und präziser Konstruktion, eingebettet in die perfekte Kulisse des zeitgenössischen Büroraums.

Degas’ Ansätze zur Historienmalerei führen „Von Sparta nach Paris“: „Junge Spartanerinnen fordern Knaben zum Wettkampf heraus“. Sie tun das leicht geschürzt und leiten so zu den Balletttänzerinnen über, die dem Besucher beileibe nicht vorenthalten werden. Der Künstler handelte durchaus „marktstrategisch“ und war nicht im Zweifel darüber, was sich verkauft. Nach dem Tod seines Onkels Achille in Neapel musste er für die Schulden der Bank aufkommen, die zur Hinterlassenschaft gehörten. Erst später leistete er sich die Kunstsammlung, die nach seinem Tod fünftausend Stücke umfasste.

Auch die Ballettbühne belebte Degas mit zitierten Posen aus der Kunstgeschichte. Die Notwendigkeit, den weiblichen Akt mythologisch zu legitimieren, entfiel allmählich. Allerdings fällt auf, wie respektlos der Künstler manch eine Badende beim Verlassen der Wanne in wenig vorteilhafter Haltung zeigt. Doch auch so etwas lässt sich in historischen Vor-Bildern wiederfinden, fällt dort nur nicht so auf.

Anleihen bei klassischen Werken gibt es auch bei den Reitermotiven. Die Jockeys wurden gewissermaßen vom Parthenon-Fries auf die Rennbahn versetzt. Und auch da scheute sich Degas nicht vor gewagten Schnitten. So lässt einer der „Herrenreiter vor dem Start“ die Szene am rechten Bildrand ohne jede Rücksicht auf den Betrachter hinter sich. Bei den „Jockeys vor dem Start“ verdeckt eine Stange wie bei einem verunglückten Schnappschuss ausgerechnet den Pferdekopf. Zum eigentlichen Rennen ließ es der Künstler gar nicht erst kommen, so wenig wie beim Ballett zur Aufführung.

Am deutlichsten wird Degas’ experimentelle Arbeitsweise bei seinen Landschaften. Teils als Pastell realisiert, teils als mit Pastellkreiden überarbeitete Monotypien entfalten sich zauberhafte Stimmungsbilder, die von impressionistischer Pleinairmalerei denkbar weit entfernt sind. Das visionär aus dem Gedächtnis geschöpfte Gefilde, die „Steilküste“ von 1892, entpuppt sich bei näherer Betrachtung gar als entspannt hingegossener weiblicher Akt, der uns eine hügelige Küstenlandschaft vorgaukelt. Überzeugender lässt sich nicht nachweisen, was die Ausstellung uns sagen will: Edgar Degas war zwar kein impressionistischer, auf alle Fälle aber ein wegweisender Künstler..