Die Band Beatsteaks aus und in Berlin Foto: dpa

Deutsche Musik ist so gefragt wie noch nie – das verdeutlicht auch das anstehende Stuttgarter Konzertwochenende. Gleichwohl werden die Debatten um die inhaltliche Qualität lauter. Ein paar Randbemerkungen zu einem bemerkenswerten Phänomen.

Stuttgart - Ziemlich genau zwanzig Jahre ist es her, dass sich der deutsche Künstler Heinz Rudolf Kunzezum Sprachrohr einer Initiative aufschwang, die eine Mindestquote deutscher Rockmusik im deutschen Rundfunk forderte. Der Sänger begründete dies mit der „Flut von ausländischer Musik und eben auch ausländischem Schund“, die im Äther dominiere und das deutsche Liedgut in seiner Entfaltung verhindere. Die Initiative versandete glücklicherweise, Triviallyrik an der Schundgrenze („Dein ist mein ganzes Herz / Du bist mein Reim auf Schmerz / Wir werden wie Riesen sein / uns wird die Welt zu klein“) und eine Pauschalforderung nach mehr Quantität wollten sich die Deutschen dann doch trotz prominenter Fürsprecher insbesondere aus der bayerischen Staatsregierung nicht oktroyieren lassen.

Zwanzig Jahre später kann man nun vieles über die deutschsprachige Popmusik behaupten, aber eins gewiss nicht: dass sie kommerziell erfolglos wäre. Die deutsche Musikwirtschaft setzt laut einer Studie der Universität Jena jährlich elf Milliarden Euro um. Die Bruttowertschöpfung lag dabei (im Jahr der Datenerhebung 2014) mit rund 3,9 Milliarden Euro sogar über der von Filmwirtschaft, Radioveranstaltern, Buch- oder Zeitschriftenverlagen. Und – wie schon im Vorjahr – lag hierzulande auch 2016 laut den offiziellen Statistiken des Bundesverbands der Musikindustrie die Zahl der verkauften Tonträger deutscher Künstler über jener der internationalen Produktionen. Deutsche Musik – ob auf CDs veröffentlicht oder live präsentiert – so erfolgreich wie lange nicht mehr.

Qualität ist da

Exemplarisch versinnbildlicht dies das anstehende Konzertwochenende in Stuttgart. Im Wizemann werden an diesem Freitag beide Säle bespielt, im kleinen tritt die Singer-/Songwriterin Madeline Juno aus Offenburg auf, im großen die Mundartband Kasalla aus Köln; zeitgleich spielen im erwartungsgemäß ausverkauften LKA die Beatsteaks aus Berlin, die mühelos wohl auch die größeren Stuttgarter Hallen füllen könnten – in der größten der Stadt, der Schleyerhalle, tritt am Samstag die Band Kraftklub aus Chemnitz auf. Tags darauf ist dort der Düsseldorfer Altstar Marius Müller-Westernhagen zu Gast. Fünf deutsche Popacts, deren musikalische Herkunft so vielfältig ist wie ihre geografische, werden am Wochenende in der Summe über dreißigtausend Zuhörer locken – und das sind allein die großen Stuttgarter Konzerte deutscher Musiker an den anstehenden drei Abenden.

Die Quantität ist also offensichtlich da. Über die inhaltliche Qualität ist dabei freilich noch nichts gesagt. Geht es nach den diesbezüglich mehr oder weniger übereinstimmenden Voten der deutschen Musikkritik, findet das künstlerisch wertvollste Konzert mit deutschsprachiger Musik an diesem Wochenende allerdings in keinem der genannten Stuttgarter Häuser, sondern in der Schorndorfer Manufaktur statt. Dort tritt an diesem Freitag die vom Feuilleton zu Recht gefeierte Formation Die Buben im Pelz aus Wien auf, die sich in den vergangenen Jahren in eine Reihe hoch interessanter Popkünstler aus Österreicheingegliedert hat, die von Anja Plaschgs stupendem Projekt Soap & Skin über Wanda bis zu Bilderbuch reicht.

Felix Austria!

Felix Austria, zumal, wenn man das andere Ende der nach unten offenen Geschmacksrichterskala betrachtet. Dort steht, geht es etwa nach Jan Böhmermann, der deutsche Sänger Max Giesingeraus Waldbronn, der sich jüngst als exemplarisches Opfer der Austeillust des Showmoderators wiederfand. „Gefühle abklappern, Trost spenden, Tiefe vorgaukeln“ – unter diesen drei Schlagworten subsummierte Böhmermann, womit die Giesingers, Poisels und Bendzkos dieser Republik ihr Geld verdienen. Mit „Biomusik aus industrieller Käfighaltung“, so Böhmermann, „Millionen erreichen und verdienen und dabei immer schön unpolitisch und abwaschbar bleiben“. Wo er Recht hat, hat er Recht, ein erstaunlich blasses und austauschbares Bild geben derzeit die vermeintlichen Spitzenkräfte der deutschen Popmusik ab. So austauschbar, dass Böhmermann im Scherz fünf Schimpansen aus dem Gelsenkirchener Zoo aus ein paar Textbausteinen einen zufallsgenerierten Song zusammenwürfeln ließ und diesen mit einem halben Tag Tonstudioaufwand fertig produziert hat. „Menschen Leben Tanzen Welt“ heißt er, verblüffenderweise reiht er sich tatsächlich ohne erkennbare Abweichungen in die Riege der gefühlsduselden Banalitäten ein, die heutzutage im Namen der deutschen Popmusik verbrochen werden.

„In deiner kleinen Welt“ heißt ein Stück aus dem Repertoire des deutschen Songwriters Philipp Dittberner aus Berlin, in dem er sich die Welt zusammensingt, wie sie ihm gefällt. Geahndet wird dies jedoch mitnichten mit Publikumsabstrafung. Wie es der Zufall so will, gastiert Dittberner am Montag im Stuttgarter Wizemann, während zeitgleich… erraten: Max Giesinger im LKA singen darf. Beide werden ebenso ihr Publikum finden wie der in diesem Jahr ob seines verschwörungstheoretischen Reichsbürgertums heftig von der öffentlichen Meinung durchgeschüttelte Mannheimer Popbarde Xavier Naidoo, der am 1. Dezember in der Stuttgarter Schleyerhalle vermutlich auch nicht vor gänzlich leeren Rängen auftreten wird.

Woran fehlt’s also? An einer willfährigen Musikindustrie sicher nicht, die kommerziellen Profit über jegliche künstlerische Selektionskriterien stellt, wie allein die Jahr für Jahr höchst fremdschämgeeigneten Verleihungen des so genannten deutschen Musikpreises Echo zeigen, bei denen Bands wieFreiwild oder die Böhsen Onkelz nominiert werden – womit vermutlich nicht einmal der Herzenswunsch eines Streiters für das Teutonische wie Heinz Rudolf Kunze wahr geworden wäre. An herangezüchteten Erfüllungsgehilfen der Sehnsucht nach Eskapismus wie dem von Xavier Naidoo in der Castingshow „The Voice of Germany“ protegierten Max Giesinger mangelt es offensichtlich ebenfalls nicht. Dessen Texte wandeln in grotesker Nähe zum Heile-Welt-Schlager einer Andrea Berg (die übrigens am Sonntag mal nicht in einem Fußballstadion, sondern im Stuttgarter Beethovensaal auftritt), während Bands wie Annenmaykantereit als vermeintlich höchstes Lebensziel ihrer Generation den Bezug einer schönen Altbauwohnung thematisieren.

Rare Ausnahmen

Fehlt es also an politischem Bewusstsein? Dass gerade einmal zwanzig Prozent der führenden deutschen Popmusiker jüngst auf eine Umfrage des Leitmediums „Musikexpress“ zum Verhältnis von Pop zu Gesellschaft überhaupt reagierten, mag ein Indiz sein. Umgekehrt verdeutlicht der Umstand, dass etwa der deutsche Rockmusiker Heinz Rudolf Kunze an diesem Sonntag nicht etwa in Stuttgart, sondern im Kulturzentrum Goldene Sonne im sächsischen Schneeberg auftritt, dass es die ehedem per se links positionierte deutsche Rockmusik schwer hat in Zeiten, in denen die einstige Ton-Steine-Scherben-Managerin Claudia Roth mit dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer über die Bildung einer Bundesregierung verhandelt.

Auch der zum Beispiel sehr populäre deutschsprachige Musiker Wolfgang Amadé Mozart hatte seinen Erfolg allerdings nicht seinem ausgeprägtem Hang zur politischen Inhaltstiefe zu verdanken, sondern seiner künstlerischen Ausnahmequalität. Und vielleicht ist dies der Punkt, der in all diesen neuzeitlichen Debatten etwas unterbelichtet wird: die Frage nach musikalischer Güte. Sehr wohl gibt es auch in Deutschland nämlich qualitativ herausragende Popmusiker, erstaunlich viele sogar, und mitnichten agieren etwa die Einstürzenden Neubauten, The Notwist oder das Ensemble Brandt Bauer Frick hierzulande klandestin unter Ausschluss der Öffentlichkeit, auch sie finden dankenswerterweise ein beseeltes Publikum. Extraordinäre künstlerische Güte war freilich schon immer die rare Ausnahme von der Regel – und zumindest diesbezüglich hat sich dann doch nichts am Lauf der Dinge geändert.