Cohn-Bendit über sein gestörtes Verhältnis zum FC Bayern und seine Verehrung von Zidane.

Paris - Für den Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit ist Fußball seit jeher eine Leidenschaft. Und wenn es sein musste, hat er sich deshalb auch geprügelt - mit Joschka Fischer.

Herr Cohn-Bendit, von Ihnen ist der Ausspruch überliefert: "Fußball war schon immer wichtig für mein ganzheitliches Wohlbefinden." Wie äußert sich das?

Ganz einfach, indem ich regelmäßig Fußball gucke. In Deutschland ziehe ich mir jeden Samstag die Eintracht rein. Und so oft ich kann, schaue ich mir internationalen Fußball an. Ich hoffe immer, dass die Bayern verlieren. Das sind die emotionalen Stützpfeiler, die es mir erlauben, weiterhin Politik und andere Sachen zu machen.

Fußball gucken ist eine Sache, spielen Sie auch noch?

Im Moment leider nicht, ich hatte eine Hüftoperation und bin froh, dass ich wenigstens joggen und Rad fahren kann. Als ich zuletzt auf dem Platz stand, spielte ich ohnehin mehr mit dem Mund als mit dem Fuß. In Frankfurt haben wir dreißig Jahre lang jeden Samstag gekickt: die Dunklen gegen die Hellen - zuerst am Ostpark, danach auf dem Platz neben der Bundesbank. Das war Urschrei-Therapie! Ich behaupte: Fußballspielen ersetzt die Couch.

In Frankfurt wohnten Sie mit Joschka Fischer in einer WG, haben Sie auch zusammen Fußball gespielt?

Klar, Joschka war im Ostpark immer dabei. Auch für ihn war Fußball Urschrei-Therapie. Einmal haben wir uns auf dem Platz sogar geschlagen.

Wer hat Ihre Leidenschaft entfacht?

Ich habe mich schon sehr früh, als Fünfjähriger, für Sport interessiert. In der Jüdischen Schule in Paris - meine Mutter hat dort gearbeitet - gab's Anfang der fünfziger Jahre einen Gärtner. Der kam aus Spanien, war Franco-Flüchtling und hat mich überall hin mitgenommen: zum Fußball, zum Radrennen. Übrigens habe ich Französisch lesen gelernt, indem ich die Sportzeitung "L'Equipe" entzifferte.

Gibt es ein prägendes Erlebnis aus jener Zeit?

Ja klar, die heroische Mannschaft schlechthin war für mich damals die französische WM-Elf, die in Schweden 1958 Dritter wurde. WM-Torschützenkönig Just Fontaine schoss 13 Tore: ein Rekord für die Ewigkeit! Leider haben die Franzosen im Halbfinale unglücklich 2:5 gegen Brasilien verloren. Ihr Mittelverteidiger verletzte sich beim Stand von 1:1 und konnte nicht mehr ersetzt werden. Danach brachen sie mit zehn gegen elf ein.

Wie haben Sie den deutschen Wir-sind-wieder-wer-Sieg im legendären WM-Finale 1954 erlebt?

Ich saß in Frankreich vor dem Radio und habe geweint, denn ich hielt zu den Ungarn. Sie waren die Ersten, die in Wembley gegen England gewannen. Die tollste Mannschaft der Welt, sie spielte Fußball ohne Wenn und Aber. Deshalb fand ich's völlig ungerecht, dass sie gegen die Deutschen verloren. Aber das ist ja das Faszinierende am Fußball. Er ist deshalb so spannend, weil nicht immer die Besseren gewinnen.

César Luis Menotti, der argentinische WM-Trainer von 1978, propagiert die Philosophie eines linken Fußballs. Sie auch?

Der linke Fußball ist für Menotti Offensivfußball: Sturm und Drang. Rechter Fußball dagegen ist für ihn der italienische Catenaccio: hinten mauern und auf einen Ausrutscher des Gegners warten. Ich unterscheide lieber zwischen reaktionärem und progressivem Fußball. Für Ersteren gilt: Hauptsache man gewinnt, egal wie. Progressiver Fußball hingegen führt über Ästhetik, Effizienz und Perfektion zum Sieg. Wie bei Barcelona.

Einspruch. Auch die Katalanen spielen letzten Endes nach der kapitalistischen Maxime Geld schießt Tore.

Stimmt, mit Geld kann man die besten Spieler holen, aber das garantiert keinen Erfolg. Siehe Schalke. Es ist unglaublich, welchen Klasse-Fußball Barcelona neulich beim 5:0 gegen die Königlichen gezeigt hat. Die haben Real deklassiert. Deshalb sage ich: Barcelona spielt progressiven Fußball. Was BarÛa auszeichnet, ist die perfekte Harmonie: Sie haben die Spieler, den Trainer und die Spielweise. Das ist die Johan-Cruyff-Schule.

Ab Januar werden Sie im französischen Fernsehen Fußballspiele kommentieren. Ein bemerkenswerter Aufstieg: vom roten Dany zum Quotenhit?

Der Fußball und ich haben eine Geschichte - auch eine mediale. Man darf nicht vergessen: Schon bei der Europameisterschaft 1984, als Frankreich den Titel holte, war ich Co-Kommentator für Europe 1. Bei der letzten Weltmeisterschaft war ich ebenfalls ein gefragter Interviewpartner. Dass es ein Quotenhit wird, glaube ich nicht. Seit vierzig Jahren wissen die Franzosen nicht so recht, wie sie mich einordnen sollen. Aber das macht mir nichts.

Bei der WM in Südafrika erlebte die glorreiche Equipe Tricolore ihr Waterloo. War es auch für Sie eine nationale Schande?

Nein, es war einfach nur traurig. Aber jetzt ist Laurent Blanc da. Der neue Trainer scheint die französische Nationalelf wieder hochzupäppeln. Als Weltmeister von 1998 hat er ein viel besseres Standing, er wird respektiert.

Nach dem Fiasko der Bleus fielen rassistische Sprüche. Ungezogene Ghetto-Kicker seien die Ursache allen Übels. Ist der vielgerühmte französische Multikulti-Fußball am Ende?

Nein, aber eine multikulturelle Einheit muss geschmiedet werden, das ist keine Selbstverständlichkeit. In Südafrika haben Trainer und Spieler nie zusammengefunden. Statt Mannschaftsgeist hat sich Individualismus breitgemacht, hinzu kam die Erfahrung der Ghetto-Kids. Deshalb ging ein Riss durchs Team: hier die Muslime, dort die anderen.

Und Raymond Domenech, der Trainer, war eine Fehlbesetzung . . .

Domenech war schon bei der WM in Deutschland ein Versager. Er war es, der das Endspiel in den Sand gesetzt hat. Meine Güte! Die Italiener waren doch schon platt in der zweiten Halbzeit. Wechselt er einen zusätzlichen Stürmer ein, schießen die Franzosen das Tor. Nein, Domenech hat schlichtweg Angst gehabt, Weltmeister zu werden. Dann, zwei Jahre später: das blamable Erstrunden-Aus bei der Europameisterschaft. Kein Wunder, dass in Südafrika alles auseinanderflog.

Als Nuri Sahin von Borussia Dortmund 2006 ankündigte, für die Türken spielen zu wollen, verlangten Sie, der nächste Sahin müsse für Deutschland antreten. Er heißt Mesut Özil. Zufrieden?

Es ist lächerlich, wenn die Bundeskanzlerin jetzt sagt: Multikulti ist gescheitert. Ich kann auch den bayrischen CSU-Innenminister nicht verstehen, der sich darüber aufregt, dass türkische Zuschauer Özil beim Länderspiel in Berlin ausgepfiffen haben. Was dieser Innenminister vergisst: Er selbst hat jahrelang dagegen gekämpft, dass Leute wie Özil für Deutschland spielen konnten. Die Wende kam erst mit der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts. Der beste Beweis, dass Multikulti funktioniert, ist die deutsche Nationalmannschaft.

Werden die Deutschen 2014 Weltmeister?

Nur, wenn sie Brasilien schlagen. Ich war neulich dort, weil ich einen WM-Film vorbereite. Egal, mit dem du dort sprichst, für die Leute steht fest: Brasilien wird Weltmeister. Es kann Deutschland so ergehen, wie den Ungarn 1954 und den Holländern 1974, die jeweils besser waren. Sicher hat auch Deutschland jetzt das Potenzial für den Titelgewinn, aber schön spielen reicht nicht. Man muss gewinnen.

Eine Frage an den Europakenner: Ist die Bundesliga die stärkste Liga der Welt?

Nein, die stärkste Liga der Welt ist die Premier League in England. Die Bundesliga ist aber breiter aufgestellt als die spanische Liga. Italien dagegen ist ganz abgefallen. Der italienische Fußball ist ein Sinnbild der Berlusconi-Ära, er spiegelt den moralischen Zusammenbruch des ganzen Landes wider.

Für welche Mannschaft(en) schlägt Ihr Herz?

Ich bin Eintracht-Frankfurt-Fan, würde mich aber freuen, wenn Dortmund diesmal Meister wird. Die Mannschaft spielt einen schönen und dynamischen Fußball. International halte ich zu Arsenal und Barcelona, in Frankreich habe ich ein Problem: Es gibt einfach keine sympathische Mannschaft.

Haben Sie Mitleid mit den Schalkern?

Nicht die Spur. Unter Felix Magath herrscht in Schalke Mittelalter. Aber Mittelalter ist eigentlich vorbei, denn dank der Revolution in Frankreich haben sie den Absolutismus geköpft. Wer immer noch glaubt, er könne in der modernen Gesellschaft durch Absolutismus bestehen, begeht einen großen Irrtum.

Wer ist für Sie der Beste aller Zeiten?

Zinedine Zidane. Was für ein Leben: der Junge aus dem Maghreb, der von ganz unten kommt und Lichtgestalt wird. Und dann dieses Ende: der Kopfstoß gegen Materazzi! Dieser Mann hat mehr Dichte für eine Tragödie als Pelé und Maradona zusammen.

Nächsten Sommer ist Frauen-WM in Deutschland. Vor vierzig Jahren war Frauenfußball noch verboten. Im Kampf um den Ball verschwinde die weibliche Anmut, hieß es.

Frauenfußball beschert uns schöne Spiele und großartige Spielerinnen. Deshalb kämpfe ich auch gegen die Vorurteile gegen den Frauenfußball, auch gegen meinen 20-jährigen Sohn. Trotzdem behaupte ich: Der Frauenfußball wird niemals den Platz des Männerfußballs einnehmen.