Dan Ettinger Foto: Altmann

Nach zwei Spielzeiten ohne musikalischen Chef präsentiert das Orchester der Landeshauptstadt jetzt einen neuen Chefdirigenten, der sich mit Verve in seine neue Aufgabe stürzt. Den Auftakt macht Mahlers fünfte Sinfonie.

Stuttgart - „Ein Künstler ist ein Künstler“, sagt Dan Ettinger. „Ich bin ein Künstler“, hätte er auch sagen können. Oder: „Der Künstler ist das Medium für die Kunst.“ Dass Ettinger ein Künstler ist, kann man ahnen, wenn man ihn im Chefdirigenten-Zimmer des Gustav-Siegle-Hauses in Stuttgart sitzen sieht: mit stylish verwuschelten Haaren, Lederjacke und mit den wachen Augen eines Menschen, der hinter die Dinge zu blicken gewohnt ist. Was für ein Künstler der Israeli ist, sieht man im Konzertsaal: Den Taktstock in der Rechten, während die gespreizte Linke Ausdruck einfordert, tanzt der Dirigent da mit deutlichen, manchmal auch exzentrischen Gesten vor dem Orchester, und der Klang, den er den Musikern entlockt, hat manchmal schon etwas Knalliges, Plakatives, immer aber etwas Bewegtes, ja Theatralisches.

Kalt lässt Ettinger keinen

Man kann das mögen (wie es viele bei Schrekers grandios aufgefächerter Oper „Der ferne Klang“ in Mannheim taten), man kann es auch verwerfen (so wie es zuletzt kritische Zuhörer beim „Figaro“ der Salzburger Festspiele taten, die dem offenbar durch etliche Patzer getrübten Klang der Wiener Philharmoniker unter ihm vorwarfen, er sei „verstaubt“ und „vorgestrig“). Kalt aber lässt Dan Ettinger keinen. Der Mann, der Klavier und Gesang studierte und über das Chordirigieren zum Orchester kam, hat Kante, Eigenart. Er ist ein Künstler, der durch die Musik hindurch geht – und die Musik tut dasselbe bei ihm.

„Vielleicht gehöre ich zur falschen Generation“, sagt der 44-Jährige unserer Zeitung vor seinem ersten Konzert als Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker. „Früher konnte man einen Musiker wiedererkennen, weil er eine ganz individuelle Sprache gefunden hatte, und das Publikum ist gekommen, um zu hören, wie dieser Musiker Musik macht. Heute ist das anders. In dieser Hinsicht bin ich aber altmodisch.“ Ja, und dann kommt es wieder, dieses „Ein Künstler ist ein Künstler“. Seine ganz eigene Sprache, so Ettinger, müsse dieser Künstler haben, seinen ganz eigenen Geschmack – „ganz gleich, ob er nun Mozart spielt, Wagner, Mahler oder Tschaikowsky“.

Nichts soll gleich klingen

Um Himmels willen, es soll bloß nicht alles gleich klingen. Nein: Nur wiedererkennbar will Ettinger sein, wiedererkennbar soll der Klang sein, den sein Orchester produziert: ein Markenzeichen als Publikumsmagnet. „Hey“, wünscht sich Ettinger, sollen die Musiker dann sagen, „– hey, jetzt kommt der Chef, und jetzt spielen wir so, wie wir nur mit ihm spielen.“ Mit Gut oder Schlecht habe das nichts zu tun, sondern nur mit einer gemeinsamen Sprache, einem eigenen Tonfall. Den werde man finden müssen – am besten schon ein wenig im ersten gemeinsamen Konzert. Schließlich gehe es da nicht nur um Mahler, sondern auch darum, „eine Beziehung zum Orchester zu begründen“.

„Ich bin ein Zu-Hause-Dirigent“, sagt Dan Ettinger. Zu Hause: Das ist in dieser Spielzeit auch noch das Nationaltheater Mannheim, dessen Generalmusikdirektor er seit 2009 ist. Ein bisschen sind das auch die Orchester der Bastille-Oper in Paris, der New Yorker Met oder des Londoner Covent Garden, mit denen er regelmäßig zusammenarbeitet. Aber das richtige Zuhause soll jetzt Stuttgart sein. „Ich mag es“, sagt Ettinger, „wenn ein Orchester meine Hände kennt und meinen Atem und wenn ich die Musiker kenne und weiß, wie ich mit ihnen am besten arbeiten kann.“ Dann zitiert er den Dirigenten-Doyen Sir John Barbirolli so, wie ihn sein musikalischer Ziehvater Daniel Barenboim zitiert hat: „Du wirst immer bessere Ergebnisse mit deinem eigenen Orchester erzielen als mit jedem Top-Orchester, bei dem du gastierst.“ Das mag auch etwas mit der Art zu tun haben, wie Dan Ettinger arbeitet: immer mit der Energie dessen, der den Arbeitsdruck direkt vor dem Konzert braucht, um produktiv sein zu können („Ich kann versuchen, Monate vorher anzufangen, aber das klappt nicht, dann geht es zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus“), und immer auch mit der Spontaneität eines Instinktmenschen. Erst kommen Partiturstudium, Organisation, die Absprache von Phrasierung, Dynamik oder Artikulation in den Proben; dann kommt das wirklich Wichtige: die Interpretation.

„Im Konzert zählt der Moment“

An diesem Punkt tritt auf: Ettinger, der Fatalist. Der sagt: „Ich glaube, dass das passiert, was passieren soll. Und dass es gute Gründe hat, wenn etwas nicht passiert.“ Der sagt, dass er akzeptiert, wenn mal etwas so läuft, wie er es sich eigentlich nicht vorgestellt hat. Und der sich bei seiner einstigen Lieblingsrolle als Bariton, dem Papageno in Mozarts „Zauberflöte“, vor allem einen Satz zu eigen gemacht hat: „Kämpfen ist meine Sache nicht.“ Auch der Künstler ist wieder da. „Im Konzert zählt der Moment“, sagt Ettinger. „Man muss die Akustik spüren, die Leute auf der Bühne und im Saal – und dann passieren Sachen, die in Proben nie passieren. Gott sei Dank!“

Beweglichkeit, Flexibilität nennt der Dirigent das, was er seinen Musikern abfordert. Opernorchestern, die jeden Abend ein anderes Stück spielen, ist diese gleichsam einkomponiert; bei Sinfonieorchestern muss man sie erarbeiten, denn „natürlich kann ich in die Luft schlagen, aber was zu hören ist, produzieren die Menschen, die Musiker“.

Was die Stuttgarter Philharmoniker genau produzieren, wo sie Schwerpunkte setzen werden, ist dabei noch nicht ganz klar. Gemeinsam, sagt Ettinger, wolle man das in den nächsten zwei Spielzeiten herausfinden und biete deshalb zunächst einmal alles an: „Deutsches und Russisches, Älteres und Modernes“ – wobei der neue Chef als erklärter Freund des Vibratos die Spätromantik ins Zentrum seines Interesses rückt. „Mein Mozart“, sagt er, „klingt nicht nach alter Musik, er klingt – nein, nicht fett, eher: reich und ausdrucksvoll.“ Und: „Quasi ‚authentisch‘ zu spielen, nur weil man denkt, dass das richtig ist: Das ist nicht meine Sache.“

Ja, was das denn überhaupt sei: dieses Richtige? Ehrlich, sagt Ettinger, müsse man doch vielmehr sein, und damit wird er eine Ehrlichkeit der Partitur, aber (vor allem?) auch sich selbst gegenüber meinen. Ein Künstler ist ein Künstler.