Corinna Eckstein im selbstfahrenden Auto Foto: Daimler

Was ist der Unterschied zwischen dem Flug auf den Mars und dem selbstfahrenden Auto? Das eine ist eine Vision, das andere ist in Arbeit – und wird in absehbarer Zeit Realität werden.

Sunnyvale - Die Revolution ist gut getarnt. Von außen ist der dunkelbraunen Mercedes-S-Klasse nicht anzusehen, dass in ihr eine Technik steckt, die das Autofahren über kurz oder lang so stark wie nie verändern wird. Sie rollt unauffällig durch die Straßen der Stadt Sunnyvale im US-Bundesstaat Kalifornien. Eine kleine schwarze Dose auf dem Dach ist das Einzige, was das Auto äußerlich von vergleichbaren Fahrzeugen unterscheidet. Der weitaus größere Unterschied steckt darin, dass das Auto voll ist mit Technik, die es dem Auto erlaubt, selbst zu fahren. Auf Tastendruck zieht es seine Runden im Silicon Valley, dem weltweiten Zentrum für Informationstechnologie (IT), in dem von Apple über Google bis Facebook alle namhaften amerikanischen IT-Konzerne beheimatet sind.

Die Testfahrt

Schon wenige Hundert Meter nach dem Start beim Mercedes-Forschungszentrum, in dem der Stuttgarter Konzern das vernetzte und selbstfahrende Auto entwickelt, taucht auf dem großen PC-Bildschirm zwischen den Vordersitzen eine rote Fläche auf: Kamera, Radar- und Ultraschallsensoren haben ein Objekt entdeckt, das ein Eingreifen des Systems erfordert – ein Auto, das am Straßenrand parkt und umfahren werden muss. Selbstständig tastet das Auto die Umgebung auf entgegenkommende Fahrzeuge ab, blinkt und fährt im weiten Bogen um das geparkte Fahrzeug.

Auch wenn das Auto selbstständig fährt – fahrerlos ist es nicht. Es muss immer eine Person am Steuer sitzen, die jederzeit eingreifen kann – bei diesem Auto ist es die Daimler-Ingenieurin Corinna Eckstein, die seit Januar im Silicon Valley lebt und an der Entwicklung mitarbeitet. Und nicht jeder darf am Steuer sitzen: Eckstein musste den Behörden nicht nur ein lupenreines Strafregister vorweisen, sondern auch belegen, dass sie in den vergangenen zehn Jahren keine Verkehrsverstöße begangen hat.

Die Kameras

Nur selten muss sie der Elektronik ins Steuer greifen. Selbstständig wirft das Fahrzeug ein wachsames Kamera-Auge auf Fußgänger, die auf einem Gehweg entlangspazieren; es fährt selbstständig auf eine Autobahn und sucht sich eine Lücke im fließenden Verkehr; und ebenso selbstständig verlässt es die Autobahn wieder und signalisiert den Fahrern, dass das System eine rote Ampel erkannt hat. Nur einmal, als auf einer mehrspurigen Straße ein Lieferwagen dicht vor ihr einscheren will, greift sie ins Steuer. „Wir greifen bisher lieber einmal zu oft ein als einmal zu wenig“, sagt sie. Der Bildschirm wird einige Sekunden grau, der Eingriff wird elektronisch aufgezeichnet – diese Daten müssen später den US-Verkehrsbehörden zur Verfügung gestellt werden.

Rote Ampeln sind eine der wenigen Situationen, in denen das autonome Fahren noch nicht konsequent umgesetzt wird. „Bevor das Auto über eine Ampelkreuzung fährt, fragt das System noch nach einer Bestätigung“, sagt Eckstein. Das Risiko, dass das Auto doch einmal bei Rot losfährt, will man nicht eingehen. Bei dieser Fahrt hat es alle Ampeln richtig erkannt.

Das Silicon Valley

Daimler war das erste Auto-Unternehmen, das im Silicon Valley forschte. Heute erprobt in der weltweit einzigartigen Forschungsregion auch Google das autonome Fahren – ein ganz neuer Wettbewerber der Autohersteller. Um an das nötige Know-how zu gelangen, holt der Konzern Leute wie den smarten Paolo Malabuyo an Bord, der bisher nichts mit Autos, dafür aber viel mit IT zu tun hatte. Bevor er zu Daimler nach Sunnyvale kam, führte er Design-Teams für die Microsoft-Spielkonsole X-Box, arbeitete am Design der Programme des US-Softwarekonzerns Oracle und war zuständig für die Produkte des amerikanischen Unternehmens Zynga, das Computerspiele für soziale Netzwerke anbietet. Nun gehört er zu denen, die Daimler weit in das digitale Zeitalter hineinführen sollen. „Früher waren wir eine Firma, die Blech biegt. Im Silicon Valley können wir viel lernen.“ Dort, wo aus dem Nichts Weltunternehmen wie Google, Facebook und Apple entstanden sind, sind ein technologischer Gründergeist und ein Forscherdrang zu Hause, wie er sonst in der Welt nicht mehr anzutreffen ist. Dieser „Cluster“, der die Region Stuttgart beim Autobau stark gemacht hat, verhilft einem 60 bis 70 Kilometer langen Landstrich südlich von San Francisco bei der IT-Technologie zur Weltgeltung.

Die Technik

Noch ist das Auto, das überall autonom fahren kann, ein gutes Stück von der Serienreife entfernt. Es kann bisher nur Strecken abfahren, die vorher programmiert worden waren. Denn die Routenführung über eine Navigationssoftware ist bei weitem nicht ausreichend, weil zu ungenau. „Bei der Navi-Orientierung gibt es Ungenauigkeiten von bis zu 90 Zentimetern“, sagt Daimler-Ingenieur Eberhard Zeeb, der die Technik im autonomen Fahrzeug überwacht. Deshalb wird die Route bei der Programmierung zusätzlich gefilmt. Auf der Fahrt vergleicht das System dann markante Punkte wie Hausfassaden und Bäume mit der Realität, um das Fahrzeug so genau zu orten, dass es sich im Verkehr bewegen kann. Ist die Landschaft schneebedeckt, kann es allerdings schon Probleme geben – wenn auch nicht unbedingt im sonnenverwöhnten Silicon Valley.

Für den Serieneinsatz reicht diese Art der Ortung aber ohnehin nicht aus – schließlich wollen Fahrer mehr, als vorher gespeicherte Routen abfahren. Zudem ist die Frage ungelöst, wie sich automatisch und nicht automatisch gesteuerte Verkehrsteilnehmer begegnen. Wie reagiert das Auto, wenn ein Fußgänger, der in der Nähe des Zebrastreifens steht, gar nicht über die Straße will? Daimler-Zukunftsforscher Alexander Mankowsky hält es für denkbar, dass es in Städten eine „safe zone“ geben wird, in der autonome Fahrzeuge unter sich sind – ähnlich wie die heutigen Umweltzonen. Sie verständigen sich untereinander, so dass die Elektronik nicht mehr durch den Faktor Mensch gestört wird.

Das Design

Es gibt Spannenderes, als am Steuer zu sitzen. Zum Beispiel kann man sich von Angesicht zu Angesicht mit den Mitfahrern unterhalten, Karten spielen oder den Kindern bei den Hausaufgaben helfen. Das vollautonome Auto macht’s möglich. Schon jetzt malt sich Daimler aus, wie der Innenraum dieses Fahrzeugs aussehen kann. In diesem Auto lassen sich die Vordersitze um 180 Grad wenden, und Fahrer und Beifahrer können sich den anderen Insassen zuwenden. Ralf Lamberti, zuständig für Nutzer-Erfahrung, nennt den Innenraum eine „Lounge“, zumal dieser Umbau den Platz enorm erweitert. Und das ist nicht nur räumlich zu verstehen: Studien zufolge findet in den USA ein Großteil des Familienlebens im Auto statt: Die Kinder werden zur Schule gebracht oder vom Fußballspielen abgeholt; zudem gehören in Metropolen wie Los Angeles Mega-Staus zur täglichen Routine. Anstatt nebeneinander durch die Frontscheibe zu schauen, können Eltern und Kinder sich am mobilen Familientisch versammeln, gemeinsam essen und Hausaufgaben machen.

Die Zukunft

Auch wenn die technischen Probleme noch groß sind, ist das autonome Fahren längst keine Vision mehr. Denn wichtige Komponenten sind schon heute erfunden und werden auch schon eingesetzt, sagt Daimler-Manager Lamberti. Mit den Stau-Assistenten hängen sich Fahrzeuge bis zu einer Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern an den Vordermann an; Fahrspurassistenten halten das Auto in der Mitte der Spur; mittels Abstandsradar und Temporegulierung wird der Sicherheitsabstand eingehalten. Technisch wäre auch mehr möglich, etwa eine höhere Geschwindigkeit, doch bisher gibt es juristische Hürden. So ist die Frage der Haftung noch nicht geklärt. Doch wenn das Auto selbst lenkt und es keinen Fahrer gibt, ist die Haftungsfrage klar: „Beim vollautomatisierten Fahren ist letztlich der Fahrzeughersteller verantwortlich“, sagte Daimler-Chef Dieter Zetsche. Dann wird wohl auch die Haftpflichtversicherung in ihrer heutigen Form entbehrlich.

In einigen Jahren werden sich Autos „völlig frei bewegen“, bis 2030 sei die neue Technologie auch bei der breiten Masse der Fahrzeuge angekommen, so Zetsche. Wirklich? Für Skeptiker vergleicht Lamberti die Entwicklung des selbstfahrenden Autos mit der des Smartphones: „Vor 15 Jahren konnte sich kaum jemand vorstellen, dass es einmal Handys geben wird, mit denen man überall surfen kann“, so der Forscher. „Heute kann man sich kaum noch vorstellen, dass es einmal anders war.“