Für die Sicherheit seiner Autos lässt der Daimler-Konzern jedes Jahr viele Autos an die Wand fahren. Darin sitzen Dummys, die Messwerte liefern, um die Passagiere besser zu schützen.

Sindelfingen - Es ist der Tag der Prüfung. Ein Dummy mit rotem Shirt und Sporthose sitzt auf einer Platte hinter einem Glaskasten. Er trägt die Bezeichnung H III 50 Prozent. Dies bedeutet, dass er dem durchschnittlichen Autofahrer mit einer Größe von 1,75 Metern und 78 Kilogramm Körpergewicht nachempfunden ist. Pascal Frank, Mitarbeiter im Dummy-Labor von Daimler im Werk Sindelfingen, aktiviert das Pendel. Der Metallhammer wird nach oben gezogen. Er ist exakt 23,8 Kilo schwer. Beim Aufprall muss er eine Geschwindigkeit von 24,12 Kilometern pro Stunde erreichen. Auf Knopfdruck saust das Pendel herunter und kracht gegen den Brustkorb des Dummys. Der wird etwa einen Meter nach hinten geschleudert und bleibt dort liegen. Über Sensoren und 50 Messkanäle werden die Daten erfasst und sofort im eingebauten Datenrekorder verarbeitet. Pascal Frank wertet diese anschließend am Computer aus.

Es ist der erste von 16 Tests vor dem tatsächlichen Einsatz, die der H III durchlaufen muss. „Was wir messen, muss den gesetzlichen Vorgaben entsprechen und reproduzierbar sein“, sagt Markus Hartlieb (59). Der groß gewachsene Mann mit ruhiger Stimme und Brille ist Chef des Dummy-Labors von Daimler. Rund 110 Knautschpuppen wohnen hier. Sieben Mitarbeiter kümmern sich um sie. Jeder Dummy hat seinen Platz mit der genauen Typbezeichnung, um Verwechslungen auszuschließen. Darunter sind Neugeborene, kleine Kinder oder aber schwere Kolosse wie der H III 95 Prozent, der über 100 Kilo wiegt. Nur fünf Prozent der Menschheit wiegen mehr und sind noch größer als er.

Bis zu 20 Jahre kann ein Dummy-Leben dauern

Ein wenig wirkt das Labor mit seinen Apparaturen, Haken und Maschinen wie aus der Zeit gefallen und erinnert an die Versuchsanlagen von Q, dem genialen Erfindergeist in den James-Bond-Filmen, der regelmäßig Geheimwaffen für den Agenten testete. Immer wieder knallt und knarzt, zischt und schnauft es, wenn die Dummys malträtiert werden. Eine spezielle Klimaanlage sorgt dafür, dass die Temperatur konstant zwischen 20,6 und 22,2 Grad liegt. Dies gilt auch für den anschließenden Crash im Auto. Jede Abweichung könnte die Reaktionen des Materials beim Aufprall verändert und die Messergebnisse verfälschen. „Mein Liebling unter den Dummys ist das Baby, das nur 3,6 Kilogramm wiegt, das kommt auch bei den Besuchergruppen am besten an“, sagt Hartlieb. Ansonsten aber pflegt er eine professionelle Distanz zu seinen Schützlingen.

Bis zu 20 Jahre lang kann ein Dummy-Leben dauern. Altern Metall, Kunststoff oder Schaum, werden die Teile ausgetauscht. Der Korpus hält aber in der Regel lange durch. Jedes Detail ist vorgeschrieben, selbst die Kleidung. So trägt H III Lederschuhe, wie sie das amerikanische Militär verwendet.

H III hat inzwischen seinen Kopf verloren. Der thront hoch oben unter der Decke des Labors auf einer Eisenstange. Dann saust er nach unten, der Teleskoparm schlägt auf einer Matte aus Aluminiumröhrchen auf. Die Spirale aus Metallringen, die den Hals nachbildet, biegt sich bedrohlich durch. Wieder muss ein genauer Wert erreicht werden, damit der Dummy für die Prüfung ein grünes Häkchen erhält. Ist die Abweichung zu groß, wird nachgebessert. Dann landet der Dummy auf dem OP-Tisch von Günther Schulz, der in einer ruhigen Ecke des Raumes steht. Er feilt dann an den Metallringen oder schraubt gleich einen neuen Hals dran.

Natürlich lassen sich heute am Computer viel präzisere Simulationen erstellen. Mit ihnen können etwa auch Reaktionen innerer Organe, der Haut oder von Muskelpartien dargestellt und ausgewertet werden. Der Airbag für den Gurt beispielsweise wurde so erprobt. „Bei manchen Innovationen in der Welt der Rückhaltesysteme wird die Mensch-Modellierung wichtiger, weil der Dummy für solche Tests nur bedingt geeignet ist“, sagt Hartlieb. Doch für die Einstufung der Sicherheit eines neuen Fahrzeugs etwa über den Euro-NCAP, das europäische Neuwagen-Bewertungs-Programm, ist der Dummy unerlässlich. Hartlieb: „Er bleibt auf absehbare Zeit das wesentliche Messinstrument für den Insassenschutz bei der Crash-Sicherheit.“

H III hat die Tortur der Prüfungen fast hinter sich. Sein abgeknicktes Bein liegt auf einem Sockel, die Zehenspitzen zeigen zur Decke. Erneut saust ein Pendel heran und donnert auf den Fußballen. Auch dieser wird im späteren Crash genaue Daten darüber liefern, ob Gas- oder Bremspedale sich derart bewegen, dass sie an den Füßen Verletzungen hervorrufen. Nach dem Rumms schwingt das Pendel zurück, während die Daten in Sekundenschnelle zum Rechner fließen.

1976 wird die Familie Hybrid III von General Motors in den USA entwickelt. Die Puppe aus Metall, Kunststoff und Schaum gilt noch immer als Industriestandard und ist weit verbreitet. Doch neue Generationen drängen nach. Mehrere Hunderttausend Euro kostet etwa der aktuellste World Side Impact Dummy (SID). Er verfügt über zwei übereinanderliegende Schichten von Brustringen, hat ausgefeilte Knautschzonen an der Schulter und ist damit deutlich biofideler als ein H III – also näher dran am tatsächlichen Verhalten des Körpers.

Doch das ist auch sein Problem. Durch die Komplexität mit 120 Messkanälen wächst die Streuung bei der Daten-Auswertung, der Aufwand wird erheblich größer. Problematisch ist auch die Vielzahl unterschiedlicher Zulassungstests und Einstufungsverfahren auf der ganzen Welt. „Wenn sich die Länder auf einen einheitlichen Standard einigen würden, könnten wir mit deutlich weniger Dummys auskommen und die Komplexität der Tests reduzieren“, sagt Hartlieb. Um darauf hinzuarbeiten, haben sich die deutschen Hersteller bereits 2002 zu einer Partnerschaft für Dummy-Technologien und Biomechanik (PDB) zusammengeschlossen.

Dort wird Lobbyarbeit gemacht. Endlich ist H III am Ziel. Nach allen 16 Tests steht fest, dass der Dummy präzise Messwerte liefert. Jetzt ist er bereit für den Einsatz im Auto. Weil Daimler gerade nur Prototypen eines neuen Modells testet, sind Besucher dabei nicht zugelassen. Am nächsten Morgen werden ihn die Ingenieure verkabeln und auf den vorgeschriebenen Platz im Crash-Wagen setzen. Dann startet H III zu seiner eigentlichen Mission. Gegen die Wand – im Dienst der Sicherheit.