Bei Schwangeren hatte die Einnahme von Contergan verheerende Folgen (Symbolbild). Foto: imago images/JOKER/imago stock&people

Betroffene haben fehlgebildete Arme und Beine. Der Contergan-Skandal überschattete die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik. Vor 60 Jahren nahm die Firma Grünenthal das Medizin-Produkt vom Markt.

Aachen/Köln - Es wurde als sicheres Medikament gegen Schlaflosigkeit angepriesen. Doch bei Schwangeren hatte die Einnahme von Contergan verheerende Folgen: Sie führte zu Totgeburten und bei etwa 5.000 bis 10.000 Säuglingen zu Missbildungen. Vor 60 Jahren nahm die Aachener Herstellerfirma Grünenthal das Medikament vom Markt - vier Jahre nach Einführung des Schlafmittels.

1957 hatte das Unternehmen das Präparat auf den Markt gebracht. Es verdichtete sich der Verdacht, dass der Wirkstoff Thalidomid die Ursache für die Fehlbildungen ist. Schließlich zog Grünenthal am 27. November 1961 das Medikament zurück. Nach wie vor streitet der Bundesverband Contergangeschädigter mit dem Unternehmen und der Eigentümerfamilie Wirtz um die Anerkennung von Schuld.

Neun Personen auf der Anklagebank

Als 1968 der Prozess gegen Grünenthal begann, saßen zunächst neun Personen auf der Anklagebank, die von fast 20 Strafverteidigern vertreten wurden. Die Anklage wegen vorsätzlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung wurde nach 283 Verhandlungstagen vom Landgericht Aachen fallengelassen und der Prozess im Dezenber 1970 wegen „geringfügiger Schuld“ eingestellt.

Wenige Monate zuvor hatte es schon einen zivilrechtlichen Vergleich gegeben: Der Hersteller zahlte 100 Millionen Mark als Entschädigung. Die Summe bildete zusammen mit demselben Betrag vom Staat den Grundstock für die Conterganstiftung mit Sitz in Köln, deren Finanzmittel und Leistungen für die Betroffenen mehrfach erhöht wurden. Ein weiterer und für viele Opfer schwer zu ertragender Inhalt des Vergleichs: der Verzicht auf jede weitere Klage gegen Grünenthal.

Behörden völlig unterlegen

Eine 2016 vorgestellte Studie der nordrhein-westfälischen Landesregierung über den Skandal belegt, dass die Gesundheits- und Justizbehörden eine schwache Figur abgaben. Wegen der damaligen Rahmenbedingungen für die Medikamentenzulassung habe es den staatlichen Stellen „massive Schwierigkeiten“ bereitet, die Wirkung von Contergan zu klären, die Zahl der Betroffenen festzustellen und das Schlafmittel verbieten zu lassen.

Zugleich weist die Untersuchung darauf hin, dass die Behörden Grünenthal völlig unterlegen waren. Als erste schwere Nebenwirkungen von Contergan beobachtet worden seien, habe der Hersteller mit „gezielter Desinformation und Verzögerungstaktiken“ versucht, das Mittel am Markt zu halten. Das Unternehmen habe „erheblich schneller größere Ressourcen mobilisieren“ können als staatliche Stellen - etwa durch kostspielige Anwälte. Kritischen Beamten habe Grünenthal mit Dienstaufsichtsbeschwerden und Schadenersatz gedroht.

Noch 2.500 Geschädigte weltweit

Der Bundesverband Contergangeschädigter drängt das Unternehmen, sich seiner Verantwortung zu stellen. Der Verein wirft Grünenthal vor, den Skandal nur als Folge einer „Tragödie“ zu beschreiben und nicht als Resultat eigenen schuldhaften Handelns. Demgegenüber betont Grünenthal, dass die Firma bereits über 100 Millionen Euro in die Conterganstiftung zur Opferentschädigung eingezahlt habe. Zudem sei für weitere Hilfeleistungen 2012 die Grünenthal-Stiftung gegründet worden. „Wir bedauern die weitreichenden Folgen für die betroffenen Menschen und ihre Familien zutiefst“, heißt es auf der Unternehmens-Homepage.

Die Leistungen der Conterganstiftung belaufen sich seit 1972 geschätzt auf rund 1,8 Milliarden Euro. Deren monatliche Zahlungen wurden schrittweise erhöht, aber erst 2013 auf ein auskömmliches Niveau angehoben. Heute liegen die Conterganrenten zwischen 740 und 8.400 Euro. Opfer kritisieren, dass die Zahlungen nur aus Steuergeldern und ohne Beteiligung von Grünenthal erfolge.

Die weltweit noch rund 2.500 Geschädigten, davon etwa 2.230 aus Deutschland, sind nun um die 60 Jahre alt. Viele von ihnen leiden unter Schäden an Wirbelsäule, Gelenken und Muskulatur. Die Betroffenen beunruhigen Hinweise, dass ihre Blut- und Nervenbahnen nicht an den üblichen Stellen liegen und bei Operationen unbeabsichtigt durchtrennt werden könnten. Eine Studie, finanziert aus Mitteln der Conterganstiftung und des Bundes, soll Klarheit bringen. Für die Untersuchung hat die Universität Köln bereits den Auftrag erhalten. Wegen Corona verzögert sich noch der Beginn.