Bei Sturm hatte Christine Leonhardts Mutter Angst, dass der Fernsehturm umkippt. Der Vater, Fritz Leonhardt, hat sie dann beruhigt. Foto: Judith A. Sägesser

Christine Leonhardt hat eine enge Verbindung zum Fernsehturm. Ingenierurin wie ihr berühmter Vater wollte sie aber nie werden. Die Frau aus dem Stuttgarter Westen ist Hebamme und engagiert sich für Waisenkinder in Tibet.

Degerloch - Christine Leonhardt sitzt mit einer Apfelschorle beim Imbiss-Stand am Fuße des Stuttgarter Fernsehturms. Sie hat das Wahrzeichen im Rücken, sieht es also nicht. Doch sie spürt, dass es da ist. Denn nur wenige Menschen haben einen so engen Bezug zum Fernsehturm wie sie. Die 53-Jährige ist die Tochter von Fritz Leonhardt, dem Turmbauer.

Die Tochter des Fernsehturm-Erbauers, das war Christine Leonhardt für alle vor allem als Schülerin und Auszubildende. Mit der Zeit hat sich das aber verändert. Wenn sie ihren Nachnamen nennt, denken heute die Wenigsten an ihren bekannten Vater Fritz. „Ich habe es auch nie so in den Vordergrund gestellt“, sagt sie. „Das wäre Angeberei, und das wollte ich nicht.“ Wenn sie danach gefragt wird, erzählt sie aber gern.

Ihre Mutter hatte Angst, dass der Turm umfällt

Zum Beispiel, wie sie etwa sechs Jahre alt war und die Familie Leonhardt mit Besuch aus dem Ausland zum Fernsehturm gefahren ist. „Ich habe dem Aufzugführer erzählt: Mein Vater hat den Fernsehturm gebaut, der Aufzugführer hat geantwortet: Und mein Vater ist der Kaiser von China.“ Christine Leonhardt erinnert sich auch noch daran, wie ihre Mutter bei Sturm am Fenster gestanden und angstvoll zum Fernsehturm geschaut hatte. Sie sorgte sich, dass er umfällt. „Mein Vater hat dann gesagt: Du kannst ruhig ins Bett gehen.“

Ein Mann wie Fritz Leonhardt wirft einen weiten Schatten. Er gilt als einer der einflussreichsten Ingenieure des 20. Jahrhunderts. Brücken seien ihm als Bauwerke wichtiger gewesen als Türme, sagt seine Tochter. Doch der Stuttgarter Fernsehturm war natürlich etwas weltweit Besonderes. Es war der erste Fernsehturm in Stahl- und Spannbeton-Bauweise.

Für Christine Leonhardt stand schon früh fest, dass sie keine Ingenieurin werden würde. „Nichts Technisches“, sagt sie. Sie hat zwei Jahre Biologie studiert. Weil sie die Berufsaussichten als eher pessimistisch einschätzte, schwenkte sie um auf Hebamme. Und Geburtshelferin ist die Frau aus dem Stuttgarter Westen immer noch. Sie arbeitet selbstständig für die Hebammenpraxis in Sonnenberg. Fragt sich, wie lange noch. Denn wie die Dinge derzeit stehen, will Christine Leonhardt einen neuen Weg einschlagen. Sie will versuchen, sich als Beraterin, als Coach zu etablieren.

In einem tibetischen Kloster findet sie Ruhe

Sie sagt, jemand wie sie, der sich nach Schicksalsschlägen immer wieder aufgerappelt hat, sei dafür nicht die schlechteste Adresse. Mitte der 1990er-Jahre ist eine ihrer Schwestern gestorben. Das hat Christine Leonhardts Leben auf den Kopf gestellt. Sie ist zwei Jahre in den Jemen, hat Hebammen geschult. Sie wollte ihre Träume nicht länger aufschieben, schließlich kann es so schnell vorbei sein. 2003 bekam sie die Diagnose, die sie umgehauen hat: Krebs. „Ich hatte riesige Angst, zu sterben“, sagt sie. Die Ärzte sagten, die Wahrscheinlichkeit zu überleben, liege bei 60 Prozent. 2004 ist sie mit einer Freundin nach Indien gereist, nach Dharamsala. Das ist der Sitz der tibetischen Exilregierung und des Dalai Lama. „Ich habe gedacht, ich brauche einen spirituellen Input“, erzählt Christine Leonhardt. In seinem Kloster hat sie dem Dalai Lama bei Vorträgen zugehört. Einmal ging es zum Beispiel um die Ungewissheit des Todeszeitpunkts. „Ich habe das als hilfreich empfunden.“ Christine Leonhardt fand dort Gelassenheit in einer aufreibenden Zeit.

Christine Leonhardt engagiert sich für Waisenkinder

Sie habe bei der Gelegenheit die Schwester des Dalai Lama kennengelernt, erzählt sie. Eine Begegnung mit Nachhall, wie sich herausstellen sollte. Die Schwester kümmert sich um Kinder, die aus den tibetischen Gebieten über den Himalaja flüchten – ganz allein. „Mich hat berührt, dass Eltern so verzweifelt sein können, dass sie Kinder auf so eine Tour schicken“, sagt Christine Leonhardt.

So kam eines zum anderen. Heute engagiert sich die 53-Jährige für zwei Dörfer in Ost-Tibet auf 4000 Metern Höhe. Dort leben Waisen. Christine Leonhardt sammelt hierzulande Spenden für das sogenannte Tadra-Projekt; so organisiert beispielsweise die Fritz-Leonhardt-Realschule regelmäßig einen Spendenlauf zugunsten der tibetischen Kinder. Christine Leonhardt war schon eine Weile nicht mehr in Tibet. Die Höhenluft ist ihr letztes Mal nicht gut bekommen, sie hat sich damals eine schwere Infektion geholt. „Nächstes Jahr will ich unbedingt wieder hin“, sagt sie.

Der Grundgedanke: Ein Turm für die Menschen

Im Rücken hat sie den Fernsehturm, die Apfelschorle ist fast leer. „Er ist wirklich schön, der Turm, er hat eine wohltuende Wirkung auf Menschen“, sagt sie. 1999 ist Fritz Leonhardt im Alter von 90 Jahren gestorben. Hätte er gewusst, dass der Turm einmal für Besucher geschlossen werden würde, hätte ihn das sehr traurig gemacht, sagt seine Tochter. Ihr Vater hatte ihn schließlich für die Menschen gebaut.