1850: Stolz präsentiert ein Stahlstich das Königliche Landhaus Rosenstein in Verbindung mit dem Eisenbahntunnel Foto: Stadtarchiv Stuttgart

Schon 1901 untersuchte man in Stuttgart die Möglichkeit eines Durchgangsbahnhofs mit Tunnel.

Stuttgart - Kühn schwingt die Bahntrasse unter dem zentralen Stadtgebiet hindurch, bewusst zurückhaltend zeigt sich der Durchgangsbahnhof. Eine Planung aus jüngster Zeit? Mitnichten. Bereits 1901 untersuchte man in Stuttgart die Möglichkeiten eines Durchgangsbahnhofs mit umfassenden Tunnelbauten.

Herr von Holst, Sie haben sich intensiv mit der Geschichte des Schlossgartens und des Bahnhofsbaus in Stuttgart beschäftigt. Wie kam es dazu?

Ich habe jetzt viel mehr Zeit, eigenen wissenschaftlichen Projekten nachzugehen. So recherchierte ich seit anderthalb Jahren in den Archiven des Landes und der Städte Stuttgart und Ludwigsburg - nach Bildern und Plänen zur Stadtentwicklung. Wie von selbst ergeben sich Verknüpfungen von Herkunft und Zukunft.

Was sind aus Ihrer Sicht entscheidende Wendepunkte in der Entwicklung der heutigen Landeshauptstadt?

Zunächst muss man die Erhebung zum Königreich im Jahr 1806 nennen. Friedrich, der erste König Württembergs, forciert die Repräsentation und beauftragt Nicolas Friedrich Thouret, vom Neuen Schloss aus in Richtung Neckar einen Volkspark zu konzipieren. Am 9. Januar 1807 präsentiert Thouret den Entwurf für einen solchen Park bis zum Mittleren Schlossgarten - und der König notiert darauf den berühmten Satz: So soll es seyn. Ein Stadtplan von 1807 zeigt den Park bereits realisiert.

Man hatte es also eilig?

Die junge Monarchie wollte sicher auch planerische Zeichen setzen. Bereits 1812/1813 wird die heute noch erlebbare Platanenallee mit 481 Bäumen angelegt. Sie war auf die Kirchturmspitze von Cannstatt ausgerichtet. Eine Sicht, die versperrt wurde, als Friedrichs Sohn König Wilhelm auf der zuvor Kahlenstein genannten Anhöhe sein Landhaus errichten lässt - bekannt als Schloss Rosenstein, benannt nach der Lieblingsblume seiner verstorbenen Gemahlin Katharina.

Wie ging es weiter?

Mitte der 1840er bemühte man sich um eine Anbindung an den weiterführenden Verkehr: daher der Entschluss, einen Bahnhof zu errichten. Der bestehende in Cannstatt kommt nicht infrage, die Residenzstadt braucht einen eigenen - mitten im Zentrum, an der heutigen Bolzstraße. Am Schlossgarten entlang entsteht ein doppelgleisiger Bahndamm, eine zweite Verbindung führt nach Feuerbach. Diese Schienenstränge markieren noch das heutige Gleisareal.

Um nach Cannstatt zu gelangen, brauchte es einen Tunnel?

Hier kommt etwas Überraschendes: Der König lässt diesen Tunnel direkt unter Schloss Rosenstein hindurchführen und das von Cannstatt aus anzufahrende Tunnelportal fast triumphbogenartig gestalten. Moderner Verkehr und überkommene Herrschaftsarchitektur vereinen sich zu einem Bild. Bald beschleunigt sich die Entwicklung, Stuttgart und die Gleiszahl wachsen, der Güterbahnhof kommt hinzu, und vormalige Bauten verschwinden zugunsten des Bahnverkehrs.

1941 gab es Pläne, den Bahnhof abzureißen

Lässt sich die Entwicklung in Zahlen ablesen?

Um 1840 hat Stuttgart 50.000, um 1914 über 300.000 Einwohner.

Gibt es Überlegungen zur weiteren Ausdehnung der Stadt?

Die Situation ist schwierig - Stuttgart hat in seiner engen Tallage wenig Entfaltungsspielraum. 1901 und 1906 werden Vorschläge für einen Durchgangsbahnhof entwickelt. Mit entsprechenden Untertunnelungen. Das Ziel der Planer ist, die Gleisflächen möglichst klein zu halten. Ein Stadtplan von 1880 hatte sich hoffnungsfroh gezeigt. Als Masterplan lesbar, bezeugt er die Erschließung neuer Stadtviertel in Richtung Berg und Rosenstein. Ein Vorhaben, das der wachsende Verkehr und der entsprechende Platzbedarf der Bahn binnen weniger Jahrzehnte zunichtemachen.

Die Idee eines Durchgangsbahnhofs wurde also nicht weiterverfolgt?

Einmal ist der Tunnelradius zu eng, dann wohl die Streckenführung zu einschneidend. Daneben werden Pläne verfolgt, den existierenden Bahnhof, dessen Umfeld vormals Wohngebiet gehobener Beamter war, gewaltig auszubauen. In einem zweiten Schritt fällt die Entscheidung für das heutige Bahnhofsareal.

Aus dem Paul Bonatz als Wettbewerbssieger hervorgeht?

Genau. Er entwickelt einen trutzigen Bau mit einem dominanten Turm in der Achse der Königstraße.

Auch Bonatz' Bahnhof geriet indes bald in die Diskussion?

Ja. Obgleich sofort ein Wahrzeichen der Stadt, begreift man den Bahnhof schon wenige Jahre nach seiner Eröffnung als Hindernis für die weitere Stadtentwicklung. Bonatz selbst schafft es, über einen weiterführenden Straßenverkehrsplan für Stuttgart seinen Bau unangetastet zu lassen.

Was schlägt Paul Bonatz vor?

In den frühen Jahren des nationalsozialistischen Deutschland waren die Rollen der Städte schnell verteilt. "Hauptstadt der Bewegung" wie München oder "Stadt der Reichsparteitage" wie Nürnberg konnte Stuttgart nicht mehr werden. Man qualifizierte sich als "Stadt der Auslandsdeutschen". Geheim gehaltene Stadtentwicklungspläne von 1941 präsentieren ein riesiges Gauforum in drei Alternativen: am Bollwerk, im Rosensteinpark (mit drei Kilometer langen Aufmarschstraßen, deshalb Abriss des Bahnhofs und seine Verlegung nach Cannstatt) oder auf der Uhlandshöhe. Bonatz plädiert 1941 als Obergutachter für den Erhalt seines Bahnhofs und unterstützt dezidiert ein Gauforum auf der Uhlandshöhe, das er mit der Akropolis in Athen vergleicht. Erfolgreich im Autobahn- und Brückenbau, schlägt er eine 20 Meter breite "Parkstraße" inmitten des Schlossgartens vom Neckar bis zum Neuen Schloss vor.

Bonatz wollte einen Autotunnel unter dem Bahnhof

Störte nicht der Bonatz-Bahnhof die Bonatz-Stadtautobahn?

Paul Bonatz offeriert eine Lösung, indem er seinen Bahnhof untertunnelt - vom heutigen Parkplatz an der Nordseite bis in den Schlosspark auf der Südseite. Der Mittlere Schlossgarten soll zum Verteilerbereich der kreuzungsfrei geführten Autostraßen werden. 1944 in die Türkei gegangen und nach Kriegsende erneut als Berater berufen, unterbreitet Paul Bonatz diese Pläne 1950 nahezu unverändert. Den neuen Verhältnissen angepasst, spricht er nun von einem "Parkway".

Wieso kamen dieser Plan und die Vorhaben der ersten Nachkriegsjahre, den Bahnhof zu verlegen, nicht zur Ausführung?

Die Währungsreform von 1948 stoppte alle Pläne, die das junge Nachkriegsdeutschland zu überfordern drohten. Aber deutlich wird doch das Unbehagen am bestehenden Bahnhof.

Gab es weitere Ideen, nachdem sich die Bundesrepublik wirtschaftlich stabilisiert hatte?

Es sind diverse Vorstöße dokumentiert. So erklären etwa im Frühjahr 1965 freischaffende Architekten den Bahnhof für unwirtschaftlich und schlagen stattdessen einen Durchgangsbahnhof nördlich vom Rosensteinpark vor. Die frei werdenden Gleisflächen sollen in einen innerstädtischen See verwandelt werden, an dessen Ufer an der Heilbronner Straße Hochhäuser vorgesehen sind. Zu den Unterzeichnern gehören Wilfried Beck-Erlang, Günther Behnisch und Roland Ostertag. Der damalige Erste Bürgermeister Jürgen Hahn und Oberbürgermeister Arnulf Klett lehnen die Pläne aber ab.

1991 werden erneut Pläne für einen Tiefbahnhof entwickelt. Unstrittig bedeutet dieser Teil des Verkehrs- und Städtebauprojektes Stuttgart 21 einen Eingriff in den heute noch existierenden Schlossgarten. Sehen Sie in den Planungen dennoch einen Mehrwert auch für den Park?

Der Gedanke, den Bahnhof an seinem Ort zu halten und die Gleise verschwinden zu lassen, scheint mir geradezu ideal für Stuttgarts verkehrliche Situation. Sicher ist es bitter, wenn in diesem Zusammenhang schöne alte Bäume fallen. Aber wenn ich bedenke, dass hier eine Art Wiedergutmachung gegenüber den Eingriffen der Vergangenheit möglich und im Zuge von Stuttgart 21 eine Vergrößerung des Parks um 20 Hektar vorgesehen ist, muss ich doch in Abwägung des Verlustes von sechs Hektar im heutigen Mittleren Schlossgarten, zuzüglich zwei Hektar, die nach Abschluss der Bauarbeiten wieder in Parkgelände rückverwandelt werden, sagen, dass hier über den verkehrlichen Nutzen hinaus sich für Stuttgart eine enorme Chance eröffnet.

In welcher Hinsicht?

Zunächst einmal steht dem Verzicht auf 283 Bäume der Gewinn von bis zu 5300 neuen Bäumen gegenüber. Dann gewinnt Stuttgart mit dem geplanten Rosensteinquartier ein Stadtviertel hinzu, das bereits 1880 ausgewiesen war. Hier wird also nach rund 150 Jahren eine alte Zukunftshoffnung erfüllt. Mehr noch: Hier besteht die einmalige Chance, nach der 1927 entstandenen, weltweit bekannten Weißenhofsiedlung erneut ein Stadtquartier allerhöchster Qualität zu schaffen.