Die 80-jährige Christel Hildebrand ist ihren Weg gegangen – und geht ihn noch. Foto: Judith A. Sägesser

Es hat drei Anläufe gebraucht, um Christel Hildebrand aus dem Asemwald zu treffen. Die 80-Jährige hat viel zu viel zu tun. Wem es einmal gelungen ist, der sollte Zeit mitbringen. Es lohnt sich.

Asemwald - Der Ruhestand macht sich rar. Vermutlich deshalb, weil Ruhestand für Christel Hildebrand ein Fremdwort ist. Im Asemwald ist sie bekannt. Sie leitet und lebt den theologischen Arbeitskreis, kein Thema ist ihr zu heikel. Und sie sitzt, mit Pause, seit 1994 im evangelischen Kirchengemeinderat, war auch Vorsitzende. Das Ehrenamt begleitet sie länger, als sie wollte. „Man wird die Dinge ja unter Umständen nie los“, sagt sie. „Ich höre immer auf und bin dann doch noch dabei.“

Unruhestand hin oder her, die 80-Jährige wirkt entspannt, wie sie so dasitzt an ihrem Esstisch im 17. Stock im Asemwald; wenn sie den Kopf nach links dreht, schweift ihr Blick übers Birkacher Feld. Es hat drei Anläufe gebraucht, um sie zu treffen. Die ersten beiden Male musste sie absagen. Zu viel um die Ohren. Aber aller guten Dinge sind nun mal drei.

Wer es dann einmal geschafft hat, sich mit Christel Hildebrand zu einem Gespräch über Christel Hildebrand zu verabreden, sollte Zeit mitbringen. Ihr Leben passt nicht in zwei Stunden, zu viel ist geschehen während der vergangenen acht Jahrzehnte. Hallo, grüß Gott, und schon ist sie mittendrin in einer Biografie, die alles andere als gewöhnlich ist für eine Frau ihrer Generation. Sie ist selbst sofort so vertieft in die Reise ins Damals, dass sie vergisst, Sprudel auf den Tisch zu stellen. Christel Hildebrand wäre nicht Christel Hildebrand, wenn sie sich nicht Stunden später an den Computer setzen würde, um eine Entschuldigungsmail zu schreiben. Das ist ihre aufmerksame Ader.

Geld an eine Unbekannte überweisen?

Dass sie Dinge nicht abtut, belegt die Sache mit Maria Nagava. „Eine abenteuerliche Geschichte“, wie sie sagt. „Ich habe vier Enkel in Uganda geerbt.“ Es war im Januar dieses Jahres, als sie einen Brief bekam, zwei Seiten lang, eng und ordentlichst auf Englisch geschrieben. Abgesandt von einer 18-jährigen Hebammenschülerin, die um 850 Euro bat, um ihre Ausbildung fortsetzen zu können. Geld nach Afrika überweisen? An eine Unbekannte? Andere hätten den Brief ins Altpapier geworfen, Doch Christel Hildebrand biss an, recherchierte und fand heraus: Diese Maria Nagava gibt es wirklich. Ihr und ihren drei Geschwistern wurden die Eltern auf bestialische Weise genommen, sie wurden ermordet, vor ihren Augen. Die Großmutter kümmerte sich fortan, bezahlte Maria Nagava die Ausbildung – für ein besseres Leben. Dann starb die alte Dame.

Später hat Christel Hildebrand erfahren, dass es deutsche Ärzte waren, die Maria Nagava mehrere Adressen gegeben hatten. Ärzte, die Christel Hildebrand nicht kannte, die aber sie kannten. Sie würde Frauen unterstützen, die sich nicht damit abfänden, dass die Katholische Kirche keine Priesterinnen zulässt, sie würde ihr sicherlich helfen. Da hatten sie recht. Inzwischen hat Christel Hildebrand immer wieder Geld nach Uganda überwiesen. „400 Euro hier und da tun mir nicht weh“, sagt sie. Doch Maria Nagava und ihre Geschwister kommen damit eine ganze Weile durch. Weil Christel Hildebrand eine Gerechtigkeitskämpferin ist, hat sie der jungen Frau geholfen.

Frauen waren nichts fürs Pfarramt

Dass sich die 80-Jährige auf die Seite von Frauen geschlagen hat, die gegen das männerdominierte System der Katholischen Kirche kämpfen, hat mit ihrer Biografie zu tun. Sie ist evangelisch, doch auch in ihrer Kirche gab es Zeiten, in denen für Frauen der Weg zum Pfarramt versperrt war. Christel Hildebrand berichtet, dass im Zweiten Weltkrieg in 50 Prozent der Pfarreien ein geistliches Oberhaupt fehlte. „Wie in allen Berufen damals“, sagt sie. Für Frauen ein Glücksfall, doch nach den Kriegswirren mussten die Frauen die Posten wieder räumen. Das weiß Christel Hildebrand so genau, weil sie sich selbst zur Theologie berufen fühlte, ihr aber immer wieder geraten wurde, es besser zu lassen. 1966 hat sie mit dem Studium begonnen, 1968 war die Gleichberechtigung amtlich.

Bevor sich Christel Hildebrand zu diesem Schritt entschloss, hat sie zunächst einen anderen Weg eingeschlagen. Den eher klassischen. Ihr Vater war selbstständig; sie hat nach der Mittleren Reife eine kaufmännische Ausbildung absolviert und 17 Jahre für ihn die Buchhaltung erledigt. Zudem hat sie die Frauenfachschule besucht, ihr Examen: staatlich geprüfte Hausfrau. Als würde sie sich in ihr Schicksal fügen, ein Schicksal als Frau, deren Hoheit der Haushalt war. „Dann sollte es wenigstens schnell gehen“, sagt sie heute. Deshalb das Examen, das jüngere Frauen von heute eher als Witz verstehen dürften. „Ich konnte mit sehr wenig Geld sehr gute und gesunde Mahlzeiten herstellen“, sagt sie. „Das ist nicht so uninteressant.“ Doch Christel Hildebrand war das nicht genug. Sie hat in der christlichen Jugendarbeit begonnen, hat an Gymnasien gearbeitet und an der Waldorfschule Kräherwald. Abends hat sie an ihrem Abitur gearbeitet. Der Türöffner für Weiteres. „Die Theologie war immer schon meine Leidenschaft“, sagt sie. Anfang der 70er-Jahre stand sie vor der Wahl: entweder Lehr- oder Pfarramt. Sie hat sich für Ersteres entschieden, unterrichtete vier Jahre am Fanny-Leicht-Gymnasium Vaihingen und zehn Jahre am Geschwister-Scholl-Gymnasium Sillenbuch.

Die kirchliche Karriere begann

Das gefiel ihr lange. Doch mit über 50 Jahren kamen „Ermüdungserscheinungen“, wie sie heute sagt. Sie war die pubertären Späße leid, „ich dachte immer öfter: Oh, nicht schon wieder“. Weshalb sie sich in der Akademie in Bad Boll beworben hat, als Studienleiterin im Referat Kultur – und genommen wurde. So begann eine kirchliche Karriere, die bis heute andauert, Ruhestand hin oder her. Unter anderem war sie die erste Vorsitzende des deutschen Theologinnenkonvents, eine Organisation, die kurz erklärt für die Verständigung unter den Theologinnen weltweit, egal welcher Religion, arbeitet.

Bei allen Bemühungen um Verständigung beschreibt sich Christel Hildebrand als „nicht sonderlich kompromissbereit“. Das könnte erklären, weshalb sich ihr Privatleben unorthodox entwickelt hat. Als junge Frau war sie mit einem Pfarrer verlobt. Als sie merkte, wohin die Reise führen würde, nämlich in ein Leben als Hausfrau und Mutter, die sich nicht verwirklicht, zog sie die Reißleine. Obwohl sie immer sechs Kinder wollte, wie sie sagt. Heute lebt sie in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft mit ihrer langjährigen Freundin. „Ich bin nicht lesbisch oder so“, schiebt sie hinterher. Die Freundin lebt in der Nachbarwohnung im 17. Stock, Wand an Wand. Es sei keine sexuelle Beziehung, doch Beziehung sei so viel mehr. Zum Beispiel geistiger Austausch. Und ohne den wäre Christel Hildebrand nur ein halber Mensch.