Forscherin im Labor: In Baden-Württemberg haben viele Pharmafirmen ihren Sitz Foto: dpa

Satte Tarifgehälter, innovative Produkte und weltweit aufgestellt: Die Chemiebranche zählt zu den größten Arbeitgebern im Land. Die Zukunft trübt sich derzeit aber ein.

Stuttgart - Die Chemiefirmen in Baden-Württemberg gehen im laufenden Jahr von stagnierenden Geschäften aus. „Wir rechnen mit einer Seitwärtsbewegung bei den Umsätzen“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Chemieverbände im Südwesten, Thomas Mayer, am Dienstag in Stuttgart. Lediglich beim Güterausstoß – der sogenannten Produktion – könne sich ein leichtes Plus einstellen. Von einer Rezession gehe man gleichwohl nicht aus, sagte Mayer.

2015 machten die Chemiefirmen im Land – Kleinbetriebe nicht mitgerechnet – einen Umsatz von 20,1 Milliarden Euro, was einem Plus von 4,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Diesen „starken Zuwachs“ bezeichnete Mayer als Ausnahmesituation, die in der Struktur der Branche im Land begründet liege. Die hiesigen Firmen liefern in hohem Maß der Automobilindustrie zu, für die das vergangene Jahr sehr erfolgreich verlief – eine Entwicklung, die sich allerdings im laufenden Jahr abschwächen könnte.

Allgemein ist die Chemiebranche, gemessen an der Mitarbeiterzahl, nach Maschinenbau und Fahrzeugindustrie die drittwichtigste Industriebranche im Land. In den Unternehmen arbeiten aktuell rund 107 000 Menschen, vor allem in den Bereichen Pharma, in der Farben- und Lackproduktion sowie der Kunststoff- und Faserherstellung. Auch der Bereich von Körperpflege- und Haushaltsprodukten, wie etwa Waschmittel, zählt zur Chemiebranche.

Ziel ist es, in der Chemiebranche keine Jobs zu verlieren

Das Ziel im laufenden Jahr sei es, das derzeitige „Beschäftigungsniveau zu halten“, sagte Mayer. Mit einem Jobabbau rechne man nicht, es sei aber klar, dass die Firmen „etwas tun müssten“. Im vergangenen Jahr hätten viele Unternehmen begonnen, Neueinstellungen zurückzufahren. Trotz der Sonderkonjunktur war die Beschäftigung im Chemiebereich 2015 nur um gut ein Prozent angestiegen. Einzelne Bereiche hatten keine neuen Mitarbeiter mehr eingestellt.

Zur Beschäftigung von Flüchtlingen sind die Firmen bereit, allerdings sind ihnen wegen zu langer Anerkennungsverfahren und des damit verbundenen unklaren rechtlichen Status von Migranten teils „die Hände gebunden“, wie Mayer sagte. Ein Problem sei aber auch die mangelnde Qualifizierung.

Zu schaffen macht den Chemieunternehmen zunehmend die Konjunkturabkühlung in Fernost, allen voran in China, das als Absatzmarkt derzeit nicht mehr zulegt. „Wir wären froh, wenn wir die Exportumsätze 2016 halten könnten“, sagte der ChemieHauptgeschäftsführer. Bislang fahren die Unternehmen im Südwesten 60 Prozent ihrer Geschäfte durch Exporte ein. Jährlich fließen so 12 Milliarden Euro vom Ausland in den Südwesten.

Investitionen fließen in die USA ab

Ein weiteres Problem sind andere Chemiestandorte, die im weltweiten Vergleich attraktiver werden und Kapital und Produktionskapazitäten aus Deutschland absaugen. Mit drei Milliarden Euro sei ein Gutteil der Branchen-Gesamtinvestitionen des Jahres 2015 in die USA geflossen, sagte Anno Borkowsky, Vorsitzender des Branchenverbands VCI (Verband Chemischer Industrie) im Südwesten. Allein zwei Milliarden davon seien getätigt worden, weil die Energiepreise in Übersee deutlich günstiger sind als hierzulande. „In die USA fließen immer mehr Investitionen“, sagte Borkowsky.

Die Energiewende und die damit verbundenen hohen Energiekosten blieben eine „wirtschaftliche Herausforderung“, sagte er. Insbesondere der Mittelstand spüre einen erheblichen Kostendruck. Jede weitere Verteuerung des Produktionsfaktors Strom reduziere dessen Wettbewerbsfähigkeit. Tatsächlich genießen große Stromabnehmer in energieintensiven Unternehmen zahlreiche Freistellungen von Steuern und Umlagen auf den Strompreis. Anders ausgedrückt beziehen sie Energie zu durchaus wettbewerbsfähigen Tarifen. Diese Vergünstigungen sinken aber mit der Firmengröße beziehungsweise mit dem Energieverbrauch. Das setzt speziell kleine und mittlere Firmen hohen finanziellen Belastungen aus.

Appell an Landespolitik, in Sachen Energiewende für klare Bedingungen zu sorgen

In diesem Zusammenhang betonte der Südwest-Chemie-Chef die Bedeutung der Eigenstromerzeugung für die Unternehmen. Die Energieproduktion in eigenen Kraftwerken ist in der Branche üblich. Auch dieser selbst erzeugte Strom ist nach langem Ringen mit der Politik teilweise – etwa in bereits bestehenden Anlagen – von Energiesteuern und -umlagen befreit. Diese spezifisch deutschen Regelungen stehen allerdings seit längerem im Fadenkreuz der Brüsseler EU-Kommission und sollen fallen. Brüssel dürfe „uns hier nicht mit dem Pseudo-Argument der Beihilfe im Wettbewerb strangulieren“, sagte Borkowsky. Er appellierte an die Landespolitik, in Berlin und in Brüssel intensiv für den Bestandsschutz bei eigenerzeugtem Strom einzutreten. Um die Versorgungssicherheit zu wahren, sei zudem ein schneller Ausbau der Stromtrassen von Nord nach Süd notwendig.

Um Wachstumsmotor zu bleiben, müsse zudem der Zugang von Start-up-Firmen zu Wagniskapital verbessert werden und ihnen eingeräumt werden, anfallende Verluste besser steuerlich geltend zu machen. Eine steuerfinanzierte Forschungsförderung sei außerdem überfällig.