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Auf dem Arbeitsmarkt haben Jugendliche ohne Schulabschluss miserable Chancen.

Stuttgart - Jedes Jahr verlassen mehr als 65.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Die meisten absolvieren Fördermaßnahmen, bei denen am Ende oft weder eine Lehrstelle noch ein Job herauskommt. Kritiker bemängeln, dass dieses System viel kostet und wenig effizient ist.

Osman weiß, dass er in den letzten Jahren "ziemlich viel Mist" gebaut hat. Auf Schule und Lernen hatte er "null Bock". Dass ohne guten Abschluss auf dem hart umkämpften Lehrstellenmarkt nichts geht, war ihm egal. Mit seinen "Kumpels abhängen" war das Einzige, was ihn interessierte. Im April erhielt der 16-jährige Türke die Quittung. Weil er Lehrer und Mitschüler um Schutzgeld erpresst und gestohlen haben soll, wurde der Hauptschüler in der neunten Klasse von der Schule geworfen.

Ein halbes Jahr lang hing Osman zuhause rum, bevor er sich aufraffte und Hilfe bei der Mobilen Jugendarbeit Stuttgart suchte. Die Gespräche mit den Sozialarbeitern zeigten bei ihm ungeahnte Wirkung. Seit Anfang Oktober besucht Osman die Stuttgarter Volkshochschule (VHS), wo er im Rahmen des Beschäftigungsangebots "Sprungbrett" bis April 2011 seinen Hauptschulabschluss nachmachen kann. "Es gefällt mir total. Die Leute sind gut drauf. Ich strenge mich an, um einen guten Abschluss zu machen und meine Chancen zu verbessern."

Vielen Jugendlichen ergeht es ähnlich wie Osman. Selbst mit Hauptschulabschluss finden sie oft keine Lehrstelle, sondern müssen sich in staatlichen Fördermaßnahmen weiterqualifizieren. Nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung hatten 2008 rund 65.000 Schulabgänger in Deutschland (7,5 Prozent aller Absolventen) keinen Abschluss. Von diesen waren 56,3 Prozent Förderschüler - welche die Schule in der Regel ohne Abschluss verlassen -, 26,5 Prozent Hauptschüler, 4,7 Prozent Realschüler und 1,4 Prozent Gymnasiasten. Die größten Verlierer des Bildungssystems sind männliche Migranten. Ihre Abbrecherquote liegt mit 15,4 Prozent fast doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt.

620.000 Jugendliche drängen auf den Ausbildungsmarkt

"Vor allem Hauptschüler haben es schwer, eine Lehrstelle zu finden. Ohne Abschluss ist es noch viel schwerer", sagt Tilly Lex, Bildungsexpertin beim Deutschen Jugendinstitut (DJI). "Die Jugendlichen landen fast immer in Berufsbildungsmaßnahmen der Arbeitsagenturen, Länder und Kommunen." Dieses sogenannte Übergangssystem - von Kritikern "Warteschleife" oder "Parkplatz" genannt - umfasst zahllose Bildungsangebote, die die Ausbildungsreife von Jugendlichen mit oder ohne Abschluss fördern und den Übergang in eine Berufsausbildung im dualen System erleichtern sollen. Die Teilnahme ist für alle Abgänger de facto verpflichtend, die keinen Ausbildungsplatz gefunden oder die neunjährige Pflichtschulzeit noch nicht erreicht haben.

Doch nicht nur die aktuellen Schulabgänger drängen auf den Ausbildungsmarkt. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) waren im Jahr 2008 von 620.037 registrierten Lehrstellenbewerbern 320450 Altbewerber. "Wir schieben die früheren Jahrgänge, die nicht vermittelt werden konnten, vor uns her", warnt der Göttinger Bildungsforscher Martin Baethge.

Nach Angaben von DJI-Mitarbeiterin Lex ist die Lage der Jugendlichen teilweise dramatisch. "Einem Viertel von ihnen ist 54 Monate nach dem Ende der Pflichtschulzeit noch immer nicht der Einstieg in eine Ausbildung gelungen." Durchschnittlich 13,5 Monate hätten sie als Ungelernte gearbeitet und 27 Monate in Schulen und berufsvorbereitenden Angeboten verbracht.

Was ursprünglich als eine Option gedacht war, um Jugendliche in Zeiten der Lehrstellenknappheit von der Straße zu bekommen, hat sich zu einem bürokratischen Ungetüm entwickelt. "Das Übergangssystem mit knapp 450.000 Jugendlichen und 193 völlig undurchschaubaren, nebeneinander agierenden Maßnahmepaketen ist ein großes Ärgernis", sagt IG-Metall-Bildungsexperte Klaus Heimann. Nicht nur, dass es pro Jahr 5,3 Milliarden Euro verschlinge, in 90 Prozent der Fälle sei es eine "Warteschleife", die dazu führe, dass die Jugendlichen schlechtere Bildungsoptionen hätten als vorher. "Wir sind für eine Abschaffung des Systems - komplett und möglichst schnell."

Jeder Sechste zwischen 20 udn 30 hat keinen Berufsschulabschluss

Gewerkschafter und Arbeitgeber sind sich weitgehend einig, dass die Fördermaßnahmen von den Beruflichen Schulen in die Betriebe verlagert werden müssen. Heimanns Fazit ist verheerend: "Die Zusammenarbeit zwischen Arbeitsagenturen, Kommunen und Betrieben ist katastrophal. Sie arbeiten nicht miteinander, sondern gegeneinander." Institutionelle Eigeninteressen wären wichtiger als die Interessen der Jugendlichen. "Was da abläuft, ist ganz schlimm."

Mit dieser Einschätzung steht der IG-Metall-Mann nicht alleine, wie der Dritte Nationale Bildungsbericht und OECD-Bildungsbericht beweisen. Trotz der Reformen der vergangenen Jahre hat jeder Sechste zwischen 20 und 30 Jahren keinen Berufsschulabschluss und befindet sich in keiner Bildungsmaßnahme. "Der Bildungserfolg ist nach wie vor eng verknüpft mit der sozialen Herkunft, dem Migrationshintergrund und dem Geschlecht", betont der Frankfurter Bildungsforscher Klaus Weishaupt, einer der Autoren des Nationalen Bildungsberichts. Fast jeder dritte Schüler in Deutschland wachse zudem in einer "sozialen, finanziellen oder kulturellen Risikolage" auf.

Zu ihnen gehört die 21-jährige Anna aus Heilbronn. Vor zwei Jahren verließ die Italienerin die Hauptschule ohne Abschluss. "Ich bin abgerutscht, habe nichts mehr für die Schule getan." Ihre Eltern waren weder willens noch in der Lage sie zu unterstützen. Nach der Berufsschule machte sie ein einjähriges Praktikum als Verkäuferin in einem Kaufhaus. Nachdem sie durch sämtliche Prüfungen gerasselt war, stand sie vor dem Nichts. Seit vier Monaten wohnt sie in einer betreuten Wohngruppe in Stuttgart, bekommt 359 Euro vom Arbeitsamt.

Der Sozialpädagoge Tobias Maucher von der Mobilen Jugendarbeit Stuttgart (die von der Caritas, der Evangelischen Gesellschaft und den örtlichen Kirchengemeinden getragen wird) hilft Anna und Osman bei Behördengängen und Bewerbungen, knüpft Kontakte. Heute ist Anna sehr viel klüger. "Es war ein Fehler, dass ich mich in der Schule nicht angestrengt habe. Jetzt bin ich älter und will es besser machen." Ob das gelingt? "Viele Chancen habe ich nicht mehr."

Hundertausende müssen sich mit Hilfsjob begnügen

Dass Hunderttausende Jugendliche vom Berufsleben nicht viel mehr als Hilfsjobs und Arbeitslosigkeit zu erwarten haben, ist nicht akzeptabel. Harald Ziegler glaubt nicht, dass man an diesem skandalösen Zustand mit Hilfe zentraler Maßnahmen viel ändern kann. "Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist das Übergangsystem erfolglos", sagt der Geschäftsführer von JobConnections, einer Einrichtung der Evangelischen Gesellschaft (Eva). In Stuttgart verlassen 7,3 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss - der beste Wert unter allen Großstädten. Dies wird nur getoppt von Baden-Württemberg mit einer Quote von 5,6 Prozent. Jobcenter und Kommune seien erfolgreich, weil sie den Betrieben "gescheite, konkrete Angebote" machten, so Ziegler.

Im Südwesten ist das soziale Netz engmaschiger gestrickt, individuell zugeschnittene Förderangebote sind zahlreicher als in anderen Regionen - wie etwa in Mecklenburg-Vorpommern, wo fast 18 Prozent der Abgänger ohne Abschluss bleiben. Jugendliche allein in standarisierte Qualifizierungsprojekte zu stecken, nütze oft nichts, ist Klausjürgen Mauch, Bereichsleiter der Eva für Mobile Jugendarbeit, überzeugt. Stattdessen müsse man ein ganzes Maßnahmebündel schnüren und viel Zeit in die Betreuung investieren. "Ohne Ansprechpartner, nur mit Kursen geht jede Förderung schief. Man muss individuelle Hilfen anbieten. Die Jugendlichen brauchen klare Zielvorgaben und Anforderungen sowie eine Person, an die sie sich wenden können."

Die Hilfen, darin sind sich die Experten einig, dürfen nicht erst beginnen, wenn die jungen Leute schulisch bereits gescheitert sind. Sozialarbeiter wie Tobias Maucher sind in den Stuttgartern Hauptschulen präsent, um Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Maucher: "Aus der Vielzahl der Hilfen suchen wir zusammen mit den Jugendlichen diejenigen aus, die zum Jugendlichen passen. Wie Maßnahmen greifen, ist abhängig von der persönlichen Betreuung."

Klagen über Mangel an qualifizierten Azubis

Seit Jahren klagen Industrie und Handwerk über einen Mangel an qualifizierten Azubis. Interessenten gäbe es genug, doch würden viele nicht die erforderliche Ausbildungsreife mitbringen. Verantwortlich sei-en Versäumnisse im Elternhaus wie in den Schulen, sagt Martin Fädrich, Leiter der Abteilung Berufsbildung der IHK Region Stuttgart. "Da muss einiges besser werden." So müssten die Ganztagesschulen ausgebaut und die Betreuung verstärkt werden. Mit den Gewerkschaften ist sich Fädrich einig, dass die Berufsvorbereitung umso besser funktioniert je betriebsnäher sie ist. "Für Lesen, Rechnen, Schreiben brauchen wir Schulen. Für alles andere wie Berufsorientierung und das Erlernen von Teamfähigkeit und Pünktlichkeit sind die Betriebe da."

Osman hat seinen Notenschnitt im Vergleich zur alten Schule deutlich verbessert. Während er früher fast nie in die Bücher schaute, büffelt er jetzt sogar am Wochenende. Am liebsten wolle er Maler oder Karosseriebauer werden, sagt er und blickt zu Maucher rüber. Der nickt. Osman fühlt sich bestätigt: "Ohne Abschluss keine Chance. Früher war mir das egal. Jetzt nicht mehr."